Auszug aus Colin Tipping: “Ich vergebe – Der radikale Abschied vom Opferdasein“ ISBN 978-3933496805 © J.Kamphausen Verlag

1: Jills Geschichte
Als meine Schwester in der Ankunftshalle des Atlanta
Hartsfield International Airport auf mich zukam,
wusste ich sofort, dass etwas nicht stimmte. Sie konnte
ihre Gefühle noch nie gut verbergen, und ich sah deutlich, wie
sehr sie emotional litt.
Jill war mit meinem Bruder John, den ich seit sechzehn Jahren
nicht mehr gesehen hatte, aus England in die USA geflogen.
John war 1972 aus England nach Australien ausgewandert, ich
ging 1984 in die USA. Jill war daher – und ist es noch heute –
die einzige von uns drei Geschwistern, die noch in England lebt.
John war nach Hause gereist, und sein Trip nach Atlanta war
die letzte Etappe seiner Rückreise. Jill begleitete ihn nach
Atlanta, so dass sie mich und meine Frau JoAnna für ein paar
Wochen besuchen und John von dort nach Australien verabschieden
konnte.
Wir umarmten uns zur Begrü.ung, und nach einem Moment
der Verlegenheit machten wir uns auf den Weg zum Hotel. Ich
hatte für die Nacht Zimmer reserviert, sodass JoAnna und ich
den beiden am nächsten Tag Atlanta zeigen konnten, bevor wir
in unser Haus fahren würden.
Sobald sich eine Gelegenheit zu einem ernsten Gespräch ergab,
sagte Jill: „Colin, es sieht nicht gut bei mir zu Hause aus. Jeff und
ich werden uns wahrscheinlich trennen.“
Obwohl ich gemerkt hatte, dass mit meiner Schwester etwas
nicht stimmte, war ich überrascht. Ich war immer sicher gewesen,
sie führe mit ihrem Mann Jeff eine glückliche Ehe. Beide waren
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zuvor verheiratet gewesen, doch diese Beziehung schien von
Dauer zu sein. Jeff hatte aus vergangener Ehe drei Kinder, Jill
hatte vier. Ihr jüngster Sohn Paul war der einzige, der noch zu
Hause wohnte.
„Was ist los?“, fragte ich.
„Es ist seltsam, und ich weiß auch gar nicht, wo ich anfangen
soll“, erwiderte sie. „Jeff verhält sich sehr merkwürdig, und ich
halte es nicht mehr viel länger aus. Wir sind an einem Punkt, an
dem wir nicht mehr miteinander reden können. Es bringt mich
um. Er hat sich vollkommen von mir abgewandt und sagt, alles
sei meine Schuld.“
„Sprich Dich aus“, sagte ich und sah zu John, der die Augen verdrehte.
Er hatte die beiden vor seinem Flug nach Atlanta eine
Woche lang besucht, und ich schloss aus seiner Miene, dass er
von dem Thema vorerst genug hatte.
„Erinnerst Du Dich an Jeffs älteste Tochter Lorraine?“, fragte Jill.
Ich nickte. „Ihr Mann starb vor etwa einem Jahr bei einem Autounfall.
Seitdem hat sich zwischen ihr und Jeff diese äußerst
seltsame Beziehung entwickelt. Jedes Mal, wenn sie anruft, überschl.gt
er sich fast und umschmeichelt sie, nennt sie ,Liebes‘ und
tuschelt stundenlang mit ihr. Man könnte denken, sie seien verliebt
– und nicht Vater und Tochter. Wenn er bei ihrem Anruf
gerade beschäftigt ist, lässt er alles stehen und liegen, um mit ihr
zu reden. Wenn sie zu uns nach Hause kommt, verhält er sich
genauso – wenn nicht schlimmer. Sie hocken zusammen, flüstern
nur miteinander und schließen alle anderen aus – besonders
mich. Ich kann es kaum ertragen. Ich habe das Gefühl, sie ist das
Wichtigste in seinem Leben geworden, und ich spiele so gut wie
keine Rolle mehr. Ich fühle mich total ausgeschlossen und missachtet.“
Sie erzählte weiter und schilderte mehr Details der seltsamen
Familiendynamik, die sich da entwickelt hatte. JoAnna und ich
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hörten aufmerksam zu. Wir waren verständnisvoll und mitfühlend;
wir erörterten mögliche Ursachen für Jeffs Verhalten und
machten Jill Vorschläge, wie sie mit ihm darüber sprechen könnte.
Kurz: wir versuchten, Lösungsmöglichkeiten zu finden, wie
dies ein besorgter Bruder und eine Schwägerin so tun. John half
mit und bot ebenfalls seine Sicht der Situation dar.
Was mir seltsam und verdächtig vorkam, war das untypische
Verhalten von Jeff. Der Jeff, den ich kannte, war liebevoll zu seinen
Töchtern und sicherlich abhängig genug, um ihre Bestätigung
und Liebe sehr zu brauchen. Doch ich hatte sein Verhalten
niemals so gesehen, wie Jill es beschrieb. Ich kannte ihn als fürsorglich
und liebevoll gegenüber Jill. Ich konnte kaum glauben,
dass er sie nun so grausam behandelte. Es war für mich klar, dass
diese Situation Jill unglücklich machte und Jeffs Beharren darauf,
sie bilde sich alles nur ein, für sie alles noch verschlimmerte.
Die Unterhaltung setzte sich den ganzen nächsten Tag fort. Ich
begann eine Vorstellung davon zu bekommen, was sich aus der
Perspektive der Radikalen Vergebung zwischen Jill und Jeff abspielte.
Doch ich beschloss, dies nicht zu erwähnen – jedenfalls
nicht sofort. Sie war zu befangen in dem Drama der Situation
und wäre so nicht in der Lage gewesen, zu hören und zu verstehen.
Radikale Vergebung basiert auf einer umfassenden spirituellen
Perspektive, die damals, als wir noch zusammen in England
lebten, ganz und gar nicht zu unserer gemeinsamen Lebenswirklichkeit
gehörte. Ich war mir sicher, dass sie und John so gut
wie nichts über meine Ideen und Vorstellungen bezüglich Radikaler
Vergebung wussten. Ich hatte das bestimmte Gefühl, es sei
noch nicht an der Zeit, einen so schwierigen Gedanken zu äußern
wie: dass alles so, wie es ist, vollkommen ist – und eine Gelegenheit
zu heilen.
Nachdem wir zwei Tage das Problem immer wieder gewälzt hatten,
entschied ich, dass die Zeit reif sei, Radikale Vergebung anzusprechen.
Dazu musste sich allerdings meine Schwester der
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Möglichkeit öffnen, dass etwas in ihrem Leben geschah, das über
das Offensichtliche hinausging – etwas Sinnvolles, von göttlicher
Instanz geleitet und ihrem höheren Wesen dienend. Doch noch
war sie überzeugt, das Opfer der Situation zu sein. So war fraglich,
ob sie bereit war, eine Version von Jeffs Verhalten zu hören,
die sie aus dieser Rolle befreien konnte.
Als meine Schwester jedoch begann, die Version vom Vortag zu
wiederholen, entschloss ich mich, einzuschreiten. Vorsichtig sagte
ich: „Jill, wärst du gewillt, die Situation aus einer neuen Perspektive
zu betrachten? Könntest du mir zuhören, wenn ich dir
eine völlig andere Deutung der Ereignisse vorstelle?“
Sie schaute mich an, als wollte sie sagen: ‚Wie soll es möglich sein,
dass man die Dinge anders interpretieren kann. Es ist so, wie es ist.‘ Jill
und ich haben jedoch eine gemeinsame Geschichte; in der Vergangenheit
hatte ich ihr bei der Lösung eines Beziehungsproblems
geholfen. Also vertraute sie mir genügend, um zu erwidern:
„Meinetwegen. Was schwebt dir vor?“
.
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