Eckehardnyk, Donnerstag 8. Februar NZ 12
- Geht es überhaupt, alle Tugenden der kindlichen Zeitalter aufzubewahren? Ein Verzicht auf viele der berührten Möglichkeiten zu sein wird mit dem Erwachsenwerden eintreten. Aber was aus den ergriffenen Chancen wird, soll uns weiter beschäftigen. Ist es denn wirklich so, dass aus den im Kindesalter erworbenen, gelernten und gelebten „Werten“ die oben genannten Errungenschaften der Persönlichkeit werden?
2. Liebe, sagen wir vorläufig, ist bei einem Kleinkind und bis zur Pubertät etwas Anderes, als es nach der Geschlechtsreife sein kann. Dem Kind signalisiert sie die Verbindung zu den Menschen, denen es angehörig ist, verbunden mit dem mehr oder weniger bejahten Gefühl der Abhängigkeit der auf kindliche Weise geliebten Eltern oder Erwachsenen. Eine reife, edle und verbindliche Liebe ist jedoch ohne Freiheit für uns Heutige schwer denkbar. Möglicherweise fürchten sich zahlreiche Menschen vor Liebe ebenso wie vor Freiheit – unter Zuhilfenahme von Selbsttäuschung, indem sie sagen, sie möchten sich „nicht binden“.
3. Dabei geschieht die Bindung, die auf Liebe basiert, durchaus in Freiheit. Einen Moment ist der vollständig entwickelte Mensch im Zustand der Liebe frei und geht daraufhin die Bindung ein, in der Er, um eine Sie bereichert, neue Freiheit zu etwas Nie dagewesenen erlangen kann. Streng genommen wiederholt sich das in der Zeit andauernd. Unterbleibt dieser bewusst vollzogene Freiheitstakt für die Liebe, dann geht die Bindung, zunächst unmerklich, in etwas Anderes über, für was es Ausdrücke wie Abhängigkeit, Hörigkeit, Bratkartoffelverhältnis, Wer hier die Hosen anhat, und so weiter zutreffender sein werden, je länger der unfreie, mit Liebe verwechselte Zustand andauert.
4. Das Kind bekommt durch Achtung und Ehrerbietung, die es seinen Angehörigen entgegenbringt, eine Voraussetzung für Liebe mit auf seinen Weg. Die Liebe, die es dabei wohl schon empfindet, ist so lange eine Art Leihgabe, wie es von der geliebten Person abhängig ist. Erst das Verblassen von Abhängigkeit durch selbst verantwortliches Tun in und nach der Pubertät lässt Liebe in ihrer freiheitlich eigenständigen Weise als Freiheit zu Jemandem oder einem Etwas.entstehen.
5. Nun ist es also nötig, unsere Abhängigkeiten zu überdenken, wenn wir vorhaben, auf irgendeinem Gebiet oder mit einer anderen Person liebesfähig zu werden. Das spielt sich, wie gesagt, im Leben eines Erwachsenen tatsächlich und andauernd ab. Wir können zu unserer Erziehungsaufgabe Liebe entwickeln, wenn wir frei entscheiden dürfen, was wir zu tun haben. Seien wir an dieser Stelle ehrlich mit uns: Wie oft handeln wir unter dem Zwang eines Deadline-Datums, eines Abgabetermins, unter dem Druck einer Pflicht oder eines Moralkodex‘ anstatt aus Liebe zu unserer von uns selbst gewählten Aufgabe? Ein Austausch über diese Aufgabe mit Anderen ist natürlich noch keine Abhängigkeit. Diese entsteht erst, wenn einer der Gesprächspartner Anderen gegenüber „weisungsgebunden“ ist oder der Andere über seinen Partner Befehlsgewalt hat. Deshalb sind Eheleute wegen Erziehung oftmals im Clinch. In dieser Sache hat Stefan Herzka* nützliche Gedanken entwickelt.
6. Aus der Physik ist bekannt, dass Isaac Newton dem Licht den Wellencharakter absprach. Im 20. Jahrhundert jedoch entdeckten die Quantenphysiker, dass Elektronen und Licht sich wie eine Welle benehmen, wenn man sie durch ein Gitter schickt. Niels Bohr postulierte dann, dass Licht sowohl Korpuskel als auch Welle sein kann. Martin Buber nannte dieses Prinzip des Sowohl-als-auch in seiner Philosophie „dialogisch“. Herzka übertrug diese Erkenntnisse auf die Pädagogik und fand heraus, dass Eltern nach diesem „Sowohl-als-auch-Prinzip“ miteinander das Abenteuer Erziehung am besten meistern. Die Beiden müssen sich nur einigen, bei wem gerade die Kinder seien. Dessen Recht habe dann zu gelten. – Der andere Partner hält sich dann heraus.
7. Sowohl der aus Sizilien stammende Papa, für den Kinder schlafen gehen, wenn sie müde sind, als auch die aus Zürich stammende Mama, für welche die Kinder um halb Acht ins Bett gehören, können dies friedlich vereinbaren, wenn sie sich vorher entscheiden, in wessen Umgebung die Kinder am Abend sein sollen. Sind sie bei der Mutter, gehen sie nach Stundenplan zu Bett. Sind sie beim Vater, bleiben sie mit ihm auf, bis sie gleichauf mit ihm oder von selbst den Weg in ihr Schlafgemach finden. So einfach ist das. Diese Kinder werden kaum ihre Eltern gegeneinander ausspielen können, weil sie wissen, welches Gesetz nur bei einem der Elternteile gilt. Darüber zu diskutieren, was besser sei? Das vermeiden wir besser, denn beide Partner haben Recht und aus ihrer Kindheit haben sie mit ihrer Sicht die entsprechenden Erfahrungen mitgebracht.
8. Auf diese Weise kannst du Neues beobachten und Beispiel über Beispiel erdenken. Der Alltag mit den Kindern lässt sich „pflegeleicht und erfolgreich“ gestalten, indem du die Freiheit deines Denkens an solchen Experimenten neu kennen und achten lernst. Diese „Freiheit zu etwas“ mündet in Taten, bei denen du dich, dein Tun oder Lassen und dein Kind lieben kannst.
* Von ihm habe ich den 1989 vernommenen Ausspruch im Gedächtnis, Erwachsensein sei die Verwaltung der Defizite aus verkonsumierter Kindheit
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