Wir erfahren etwas über die nicht unbedingt offenkundige Möglichkeit, wie man ein Badezimmer auch noch benutzen kann.
thom ram, 26.01.2015
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Erwins Badezimmer Teil 3
Autor: Hans Bemmann, Autor von „Stein und Flöte“
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Erwin erzählte mir, daß ihm an diesem Nachmittag zumute gewesen sei wie einem Goldsucher, der nach endlosem Wühlen in Sand und taubem Gestein endlich auf eine fündige Ader gestoßen ist. Er nannte mir auch einige Titel, die mir damals ebenso unbekannt waren, wie sie Ihnen, Frau Doktor, heute sein werden, etwa die Große Hadubaldsche Grammatik oder Spiridions Sprachtheorie. Als Onkel Max ihn am Abend zum Essen holte, habe er sich von seiner Lektüre kaum losreißen können.
Ich will es kurz machen: Der Großonkel hatte auf irgend eine Weise eine Menge Bücher aufgestöbert, die der allgemeinen Zensur nach der Großen Nationalen Sprachreinigung entgangen waren, und an diesem Abend erfuhr mein Freund aus seinem Munde zum ersten Mal von diesem Konzentrationsmagazin für Vor-Literatur.
In den folgenden Wochen verbrachte Erwin einen Großteil seiner Zeit mit dem Studium dieser Werke und war gegen Ende der Ferien so weit, daß er seine neugewonnenen Erkenntnisse am liebsten laut hinausgeschrien hätte, um damit einen totalen Umsturz des gesamten Wissenschaftsbetriebs herbeizuführen.
Onkel Max hatte jedoch anderes im Sinn. Er machte ihm klar, daß dies der beste Weg sei, um von heute auf morgen in die Verbannung geschickt zu werden oder noch schlimmere Erfahrungen zu machen. „Meinst du“, habe er gesagt, „du seist der einzige, der sich auf solche Weise den Schädel an der Mauer einzurennen versucht? Es gibt schon noch ein paar Leute im Land, die so denken wie ich. Was wir brauchen, ist ein Mann im Konzentrationsmagazin, der für uns arbeitet. Mach also kein Aufsehen, bring dein Studium auf die vorgeschriebene Weise zu Ende, und das übrige überlasse mir. Es gibt da einen Freund, der in der Kommission für die Einstellung von Magazinbeamten sitzt.“
»Auf diese Weise bist du also in diese Institution hineingeraten«, sagte ich. »Und was tust du dort nun wirklich?«
»Zunächst einmal eine Arbeit«, sagte Erwin. »Wir sind noch immer dabei, die immensen Bestände nach ihren Inhalten in einem systematischen Katalog zu erschließen. Das kann noch Jahrzehnte dauern. Dazu muß jeder Sachbearbeiter natürlich die einzelnen Werke lesen, um die berührten Themen in Stich- und Schlagwörtern zu erfassen, und das führt zu einem interessanten Nebeneffekt, mit dem unsere Auftraggeber offenbar nicht gerechnet haben: Je intensiver sich ein denkfähiger Mensch in diese Texte vertieft, desto differenzierter wird seine eigene Sprachfähigkeit und damit zugleich auch seine Denkweise. So kommt es, daß ausgerechnet im Konzentrationsmagazin nicht wenige meiner Kollegen inzwischen zu jenem Freundeskreis gehören, zu dem auch du jetzt gestoßen bist. Die Initiatoren der Großen Nationalen Sprachreinigung hatten damals schon eine Ahnung davon, welche Sprengkraft Wörter haben können, aber ihre Nachfolger von heute sind mittlerweile dermaßen in ihrem verflachten Idiom befangen, daß sie mit einer solchen Wirkung schon gar nicht mehr zu rechnen scheinen. Übrigens müssen wir hie und da auch für die Geheimarchiven Staatsministerien ganze Werke auf Mikrofiche aufnehmen.“
„Das ist doch wohl nicht die Aufgabe, die Onkel Max dir zugedacht hatte“, sagte ich.
Erwin schüttelte lächelnd den Kopf und sagte: „Sicher nicht, obwohl man sich in Anbetracht der eben beschriebenen Erfahrung eigentlich nur wünschen kann, daß auch dort irgendwelche Referenten unter den Einfluß dieser Sprache geraten. Überdies ist es auch für den inoffiziellen Teil meiner Tätigkeit von Vorteil, daß wir diese Mikro-Aufnahmegeräte haben. Komm mit, ich zeig dir etwas!“
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Er stand auf und sagte schon im Hinausgehen: »Du wirst doch nichts dagegen haben, mein Schlafzimmer zu betreten?« Eine Antwort wartete er gar nicht erst ab, ging mir voraus zu einer Tür am Ende des schmalen Flurs und führte mich in einen Raum, in dem außer seinem Bett, einem Nachttisch und der Wäschekommode nur noch ein großer Kleiderschrank stand. Er öffnete ihn, schob die säuberlich auf Bügeln hängenden Anzüge zur Seite und fuhr mit dem Finger über eine schmale Leiste; dann drückte er mit der flachen Hand gegen die Rückwand, die geräuschlos zurückschlug und den Blick in einen dämmerigen Raum freigab.
„Tritt ein in das Reich der wahren Sprachwissenschaft!“ sagte Erwin und ging durch den Schrank. Nach derart geheimnisvollen Vorkehrungen hatte ich einen nicht minder geheimnisvollen Raum erwartet und war geradezu schockiert, als ich mich in einem Badezimmer wieder- fand. Über dem Fußende der Wanne hing ein Heißwasserspeicher von beträchtlicher Größe, daneben war an der Wand ein Waschbecken befestigt mit einem Spiegel darüber. Davor stand merkwürdigerweise ein weißlackierter Drehstuhl. In einer Ecke befand sich noch ein Wasserklosett, und Erwin machte mich gleich darauf aufmerksam, daß es nicht benutzbar sei, weil man die gesamte Installation stillgelegt habe.
Ich schaute mich in dem hellblau gekachelten Raum um und fragte mich allen Ernstes, ob Erwin geistesgestört sei und mir das alles nur vorgefaselt habe. Er muß wohl meinen verschreckten Blick bemerkt haben, denn er lachte hell auf und sagte: »Du hast dir den Tempel der Philologie wohl anders vorgestellt? Lederrücken mit Goldprägung und dergleichen? Ich habe mir das praktischer eingerichtet als Onkel Max. Setz dich auf den Stuhl und schau in den Spiegel! Dein Gesichtsausdruck ist wahrhaft bemerkenswert!«
Während ich gehorsam auf dem Stuhl Platz nahm (ich sagte mir, daß man Verrückten erst einmal ihren Willen lassen müsse, um sie nicht aufzuregen), klappte Erwin auf der Seite ein Stück der Fliesenwand auf und zog aus einem Magazin eine dünne Folie, die er in einen Schlitz an der Unterseite des Badeofens schob. Dann stellte er den Temperaturregler auf heiß und sagte: »Hast du Angst vor deinem eigenen Gesicht? Schau doch in den Spiegel!«
Als ich aufblickte, sah ich nicht, wie ich erwartet hatte, das Spiegelbild meines bestürzten Gesichts, sondern schaute auf eine matt schimmernde Scheibe, auf deren Oberfläche alsbald, während Erwin noch ein bißchen am Kaltwasserhahn drehte, undeutliche Buchstabenzeilen erschienen und sich gleich darauf gestochen scharf abzeichneten. Es war ein Titelblatt, auf dem zu lesen stand:
Hadubalds Große Grammatik
Nach der Originalhandschrift herausgegeben und mit Kommentaren versehen von
Joseph Matthias Rodenhagen
Auch der Erscheinungsvermerk war zu sehen und zeigte an, daß dieses Werk etwa 200 Jahre vor der Großen Nationalen Sprachreinigung gedruckt worden war.
„Ein praktisches Lesegerät, nicht wahr?“ sagte Erwin, als handle es sich um die selbstverständlichste Sache der Welt.
»Wenn du die nächste Seite lesen willst, brauchst du nur auf den roten Knopf des Heißwasserhahns zu drücken. Als Schreibunterlage ist das Waschbecken natürlich nicht zu brauchen; deswegen lege ich ein Brett drüber, wenn ich mir Notizen machen will«, und dabei fischte er unter der Wanne eine Art Pultdeckel hervor, der exakt und rutschfest auf dem Beckenrand aufsaß.
Ich war von alledem so konsterniert, daß ich ihn wie verblödet anstarrte und kein Wort herausbrachte. Da legte er mir die Hand auf die Schulter und sagte: „Das war wohl alles ein bißchen viel auf einmal. Beruhige dich doch! Das hier ist alles nur technischer Kram. Wahrscheinlich brauchst du jetzt erst einmal einen kräftigen Schluck.“ Er stieg durch den Kleiderschrank hinüber ins Wohnzimmer, holte die Flasche und unsere Gläser, und als ich sträflicher Weise im Hinblick auf den köstlichen Wein mein Glas auf einen Zug hinunterg kippt hatte, begann ich allmählich wieder klar zu denken.
Er zeigte mir dann, wie man den Katalog dieser MiniBibliothek benutzt (sie muß nach meiner Schätzung etwa 50000 Bände umfassen) und sagte: »Du kannst hier studieren, so oft und so lange du Lust hast. Ich gebe dir einen Wohnungsschlüssel, damit du jederzeit Zugang hast.«
Damals war ich wegen meines Gipsbeines noch im Krankenstand, und ich habe diese Zeit nach Kräften genutzt. Später mußte ich meine Studien auf den Abend verlegen. Diese Beschäftigung war allein schon faszinierend genug. Mein Freund hatte nach und nach durch viele Jahre hindurch und auch mit Hilfe anderer Kollegen alle wichtigen Werke der Vor-Literatur, nicht nur Arbeiten zur Sprachwissenschaft, sondern vor allem auch eine Fülle literarischer Texte bis zurück zu den Heldenliedern der Vorzeit auf Mikrofiche aufgenommen und sie seiner Bibliothek einverleibt. Man konnte diese kaum handtellergroßen Blättchen ja in die Tasche stecken wie einen Geldschein, ohne daß jemand bei der Ausgangskontrolle bemerkte, wie hier Literatur aus dem Konzentrationsmagazin herausgeschmuggelt wurde.
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Fortsetzung hier
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Das Buch sei vergriffen. Ist es dann Verletzung des sogenannten Copyrightes, wenn man in einem Blöglein ein paar Seiten veröffentlicht? Ich will niemandem ein Geschäft vermiesen. Weil das Geschäft mit dem Buch jedoch von Gestern zu stammen scheint, lasse ich hier Appetizer steigen.
Wer per privat das ganze Buch als Pdf möchte, der wende sich an mich persönlich, gerne schicke ich es. Dass dies unentgeltlich ist, versteht sich von selbst. Um die Verbreitung geht es mir, um nichts Anderes sonst!
Sollte jemand vom Rechtsdienst meinen, ich handele gegen geltendes Gesetz, möge er mir das bitte umgehend melden – und ich streiche das Unterfangen. Ich lege mich nicht mit geltenden Gesetzen an.

[…] Fortsetzung hier […]
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Super Gut Danke …Ich würde mich sehr freuen über die PDF .Bitte an ronaldharing@aol.com Danke
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