Auszug aus Colin Tipping: “Ich vergebe – Der radikale Abschied vom Opferdasein“
Folge 6 und Schluss.
Ich kam dann auf ihre Frage zurück: „Du brauchst nichts Besonderes
zu tun, wenn du nach Hause kommst. Ich möchte sogar,
dass du mir versprichst, erst einmal überhaupt nichts zu tun. Auf
keinen Fall solltest du Jeff von deiner neuen Sicht der Dinge berichten.
Ich möchte, dass du siehst, wie sich alles allein schon
durch deine Wahrnehmung eurer Situation ändert.“
„Du wirst außerdem das Gefühl haben, dass du dich selbst geändert
hast“, fügte ich hinzu. „Du wirst dich innerlich ruhiger,
mehr in dir selbst und entspannter fühlen. Du wirst eine innere
Gewissheit ausstrahlen, die Jeff eine Zeit lang möglicherweise
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etwas seltsam vorkommt. Es wird eine Zeit brauchen, bis sich
deine Beziehung zu ihm einrenkt. Möglicherweise ist es am Anfang
noch etwas schwierig, doch das Problem wird sich nun lösen“,
schloss ich voll Überzeugung.
Jill und ich sprachen noch häufig über die Einzelheiten ihrer Situation,
bevor sie wieder nach England zurückkehrte. Es ist immer
schwierig für jemanden, die Perspektive der Radikalen Vergebung
anzunehmen, wenn er emotional stark belastet ist. Um
so weit zu kommen, dass Radikale Vergebung wirklich stattfinden
kann, muss man sich damit häufig erst einmal gründlich
befassen und sich diese neue Perspektive immer wieder vor Augen
führen. Zur Unterstützung zeigte ich meiner Schwester einige
Atemtechniken, die ihr dabei helfen würden, Gefühle freizusetzen
und neue Lebensmöglichkeiten zu integrieren. Außerdem
bat ich sie, ein Arbeitsblatt zur Radikalen Vergebung auszufüllen
(siehe Teil IV: Werkzeuge zur Radikalen Vergebung).
An dem Tag, als Jill abreiste, war sie offensichtlich etwas unsicher
bei der Aussicht, in ihre alte Lebenssituation zurückzukehren.
Nachdem sie sich am Flugsteig verabschiedet hatte, schaute sie
noch einmal zurück und versuchte, so zuversichtlich wie möglich
zu winken. Doch ich wusste, sie hatte große Angst, ihr neu gefundenes
Verständnis wieder zu verlieren und erneut in die Dramatik
der Situation verwickelt zu werden.
Offensichtlich verlief das Wiedersehen mit Jeff dann zufriedenstellend.
Jill bat ihn, sie nicht sofort darüber zu befragen, was mit
ihr während ihrer Reise geschehen sei. Außerdem erbat sie sich
während der nächsten Tage etwas Distanz, um sich einzufinden.
Sie stellte jedoch sofort einen Unterschied bei Jeff fest. Er war
aufmerksam, freundlich und einfühlsam – eher wie der Jeff, den
sie aus der Zeit vor der traurigen Episode kannte.
Während der nächsten Tage sagte Jill Jeff, sie mache ihn nicht
mehr länger für irgendetwas verantwortlich. Ebenso wenig wolle
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sie, dass er sich in irgendeiner Weise ändere. Sie habe herausgefunden,
dass sie selbst für ihre Gefühle verantwortlich sei. Sie werde
mit allem, was geschehe, auf ihre eigene Weise fertig werden, ohne
ihm Vorwürfe zu machen. Sie ging nicht näher ins Detail und versuchte
auch nicht, sich für irgendetwas zu rechtfertigen.
Die Dinge liefen für einige Tage gut, und Jeffs Verhalten gegenüber
seiner Tochter Lorraine änderte sich dramatisch. Tatsächlich
schien in Hinblick auf ihre Beziehung alles wieder so zu werden
wie früher. Doch die Atmosphäre zwischen Jeff und Jill war nach
wie vor gespannt, und ihre Kommunikation blieb sehr eingeschränkt.
Etwa zwei Wochen später spitzte sich die Situation zu. Jill schaute
Jeff an und sagte leise: „Ich habe das Gefühl, ich habe meinen
besten Freund verloren.“
„Ich auch“, erwiderte er.
Zum ersten Mal seit Monaten verstanden sich die beiden. Sie
umarmten einander und weinten. „Lass uns reden“, sagte Jill.
„Ich muss dir sagen, was ich mit Colin in Amerika gelernt habe.
Es mag sich für dich vielleicht zuerst etwas seltsam anhören, aber
ich möchte es dir erzählen. Du musst es mir nicht glauben. Willst
du es hören?“
„Auf jeden Fall“, erwiderte Jeff. „Ich weiß, dass da etwas Wichtiges
mit dir passiert ist. Ich möchte wissen, was! Du hast dich
sehr zu deinem Vorteil verändert. Du bist nicht mehr derselbe
Mensch, der damals mit John ins Flugzeug stieg. Erzähle mir, was
geschehen ist.“
Jill redete und redete. Sie erklärte die Dynamik der Radikalen
Vergebung, so gut sie konnte – und so, dass Jeff sie verstand. Sie
fühlte sich stark und aktiv. Sie war ihrer selbst sicher und zuversichtlich,
dass sie alles richtig begriffen hatte. Sie war klar in dem,
was sie darüber dachte.
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Jeff, ein Praktiker, der allem, was nicht rational erklärbar ist,
skeptisch begegnet, sträubte sich dieses Mal nicht. Im Gegenteil,
er war sehr zugänglich. Er zeigte sich sehr offen für die Vorstellung,
dass sich hinter der alltäglichen Realität noch eine spirituelle
Welt befindet. Auf dieser Basis erschien ihm das Konzept der
Radikalen Vergebung einleuchtend. Er akzeptierte es zwar nicht
vollständig, war aber bereit zuzuhören und es zu überdenken.
Und zu sehen, wie dieses Konzept Jill verändert hatte.
Nach ihrem Gespräch spürten beide, wie ihre Liebe wieder erwachte.
Sie hatten das Gefühl, ihre Beziehung habe eine neue
Chance. Sie machten einander jedoch keine Versprechungen und
kamen überein, miteinander zu reden und zu sehen, wie ihre
Beziehung sich entwickeln werde.
Tatsächlich entwickelte sich ihre Beziehung sehr gut. Jeff behandelte
seine Tochter Lorraine noch immer sehr fürsorglich, aber
nicht so sehr wie vorher. Jill merkte, dass sie sich kaum noch etwas
daraus machte, – selbst wenn Jeff sich so benahm wie früher.
Sie fühlte sich nicht mehr wie ein Kind, und sie ließ sich nicht
mehr von ihrem alten Glauben über sich selbst leiten.
Innerhalb eines Monates nach ihrem Gespräch über Radikale
Vergebung endeten Jeffs alte Verhaltensmuster Lorraine gegenüber.
Lorraine wiederum rief nicht mehr so häufig an und kam
nicht mehr so oft zu Besuch. Sie führte wieder ihr eigenes Leben.
Alles renkte sich allmählich wieder ein, und ihre Beziehung wurde
sicherer und liebevoller als je zuvor. Jeff war der zuvorkommende
und einfühlsame Mann, der er von Natur aus ist. Jill war
weniger bedürftig, und Lorraine war viel glücklicher.
Im nachhinein bin ich sicher: Jill und Jeff hätten sich scheiden
lassen, wenn Jills Seele sie nicht nach Atlanta geführt hätte, um
unser Gespräch zu ermöglichen. In einem großen Zusammenhang
wäre dies sicherlich auch in Ordnung gewesen. Jill wäre jemand
anderem begegnet, mit dem sie das Drama ihres Lebens
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inszeniert und eine weitere Gelegenheit zur Heilung gefunden
hätte. So hat sie die Chance zu heilen wahrgenommen und ist in
ihrer Beziehung geblieben.
Heute, viele Jahre nach dieser Krise, sind die beiden noch immer
zusammen und führen eine glückliche Ehe. Wie wir alle inszenieren
auch die beiden weiterhin dramatische Situationen. Doch sie
wissen, wie sie diese als Gelegenheit zur Gesundung nutzen und
so schnell und leicht wie möglich auflösen können.
P. S.: Das Diagramm auf der folgenden Seite zeigt Jills Geschichte in
grafischer Form. Sie fand diese Sichtweise sehr hilfreich. Das Diagramm
zeigt die Entwicklung des ursprünglichen Schmerzes, sich vom Vater nicht
geliebt zu fühlen, zur Überzeugung, nicht gut genug zu sein. Und zeigt
weiterhin, wie diese Wahrnehmung sich in ihrem Leben niederschlug. Sie
können diese Darstellungstechnik auf ihren eigenen Lebensweg anwenden,
falls Sie Parallelen oder Ähnlichkeiten erkennen.
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