Eckehardnyk, Dienstag 2. August NZ 10
Grenze oder Hindernis?
1.
Hindernisse, heißt es, seien dazu da, um überwunden zu werden. Jeder Rekrut kann so einen Rüffel irgendwann bekommen, und mittlerweile ist der Spruch so bekannt, daß er keinen Anspruch mehr hat, als originell zu gelten. In der Natur kommen Hindernisse überall vorüber, aber nicht jedes wird von allen überwunden. Hirsche scheitern beim Sprung über einen tiefen Graben oder beim Durchschwimmen eines krokodilbewohnten Flusses. Ströme versiegen im Glutofen einer Wüste oder aber Lawinen setzen sich über ganze Wälder von Hindernissen hinweg. Die Aufgabe von natürlichen Hindernissen ist keineswegs, Hindernis zu sein. Wer durch sie geschützt wird oder durch ihre Überwindung zugrunde geht, liegt außerhalb ihrer Zuständigkeit.
2.
Der Mensch ist es, der Hindernisse als Problem oder Hilfe überhaupt erkennen und unterscheiden kann. Er unterscheidet aber auch zwischen Hindernis und Grenze, ist sich dessen allerdings selten richtig bewusst.1.) Eine Staatsgrenze ist in diesem Sinn keine Grenze, sondern ein mehr oder weniger strenges Hindernis. Unter Grenze wollen wir das einzige unüberwindliche Hindernis verstehen, und das ist die Unendlichkeit. Aus der Mathematik wissen wir, daß es kein „mal“ oder „geteilt durch Unendlich“ geben kann. Anders beim Hindernis: Hier wissen wir auch aus der Zahlenwelt, daß es zwar eine Null gibt, aber daß man „jenseits von Null“ mit „roten Zahlen“ genauso gut weiter rechnet. Null Problem!
3.
Wir müssen also bei den existenziellen Fragen von Sein oder Nichtsein immer wissen, ob wir es mit einer Grenze, das heißt: Mit Unendlichkeit, oder mit einem Hindernis (mit absehbarer Endlichkeit) zu tun haben. Die Einschätzung desselben Gegenstandes kann entgegengesetzt sein. Die Schöllenenschlucht am Gotthard mochte Jahrtausende lang für Sterbliche eine Grenze sein. Dann kam der Schmied von Göschenen, belegte einen Ingenieurskurs beim Teufel persönlich und machte aus der Grenze ein Hindernis. Fortan konnten Kaufmanns- und Heerzüge die Reuß und den ganzen Gotthardpaß über diese „Teufelsbrücke“ passieren. Aus einem Unendlich wurde eine Null, die Grenze zum Hindernis, zu dem die Zahlen wie die Schritte abnehmen und auf der anderen Seite, fröhlich oder nicht, wieder zunehmen bis an die Grenze des Faßbaren, wo sie sich mit uns im Unendlichen verlieren.
4.
Das Beispiel „Teufelsbrücke“ kann auch für das Wasser selbst herhalten: Solange es fällt, wie im Regen oder Wasserfall, hat es praktisch kein Hindernis (außer dem Wind). Dann trifft es auf die Erde und sein Schicksal ändert sich radikal. Aber ist es deshalb verschwunden? Es sammelt sich zu einem Rinnsal, einem Bach, einem Fluß. Der kommt an ein tiefes Becken und ist scheinbar am Ende. Er füllt das Becken und läuft andernorts über. Doch irgendwann endet sein Lauf, und für das fließende Wasser ist die Grenze, das unendlich Endliche, im einen Fall der Ozean, im andern die Trockensteppe gekommen. Wieder aber endet nicht das Wasser, sondern nur seine Form. Aus der Trockenheit verdunstet es; im Meer sammelt es sich und bildet als Wasserkleid für unseren Planeten das einzig unüberwindbare Hindernis für alle durch Täler strömenden Flüsse.
5.
Wie ist es nun mit uns Menschen? Haben wir im Tod ein Hindernis oder eine Grenze? Für Personen einer bürgerlichen Ordnung gilt ein Grab oder eine Bestattung als Grenze. Aber für uns als lebende Wesen, als Seele, als Geist, als Ich bin? Lesen wir dazu Goethe in seinem Gesang der Geister über den Wassern:
Des Menschen Seele gleicht dem Wasser
Vom Himmel kommt es, zum Himmel steigt es
Und wieder nieder nieder zur Erde muß es, ewig wechselnd …
6.
Für die Seele gab es bei Goethe demnach keine Grenze, sondern nur Hindernisse, die durch Verwandlung zu überwinden waren. Manches, ursprünglich als unabänderlich Erlebte, erweist sich schließlich nur als Hindernis; als Null, die durch einen Formwechsel überwunden werden kann. Das will dein Kind einmal wissen. Mit welchem Beispiel könntest du ihm das erzählen?
- ) Ähnlich dem fehlenden Unterscheidungsvermögen zwischen Pflicht und Zwang, wo allerdings die Kategorien im Moralischen liegen. Es gibt zum Beispiel weder Wehr- noch Maskenpflichten, wohl aber die mit Ausnahmen ausgestatteten Zwänge dafür. Einer Pflicht dagegen kann sich kein Mensch ohne moralischen Schaden entziehen. Es gilt ausnahmslos die Pflicht, geborene (auch ungeborene) Kinder zu versorgen (diese haben auch ein Recht darauf, weil sie sich nicht selbst versorgen können). Am Ende des Lebens besteht seitens der Überlebenden die Pflicht, die toten Eltern zu bestatten. Merkwürdigerweise gibt es keine Pflicht, Kinder in die Welt zu setzen, sondern nur einen Trieb dazu, der einem Zwang gleichkommt, dem man sich entziehen kann
© (eah)
2. April 1999 und 2. August 2022
Hat dies auf haluise rebloggt.
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Spannend, was Du da erzählst, lieber Eki! Und gar köstlich die Pointe, lach!
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Danke für das Tüpfel i!
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