Gebt mir Gelegenheit!
Eckehardnyk
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Beschäftigen wir uns also mit dem All der Möglichkeiten! Du möchtest aus den vielen Reaktionen etwas herausfinden, das deinem Kind sofort das Richtige abverlangt? Es steht dir eine unbegreifliche Zahl von Maßnahmen zur Verfügung, meinst du, und keine will etwas fruchten. Das scheint nur so. Du triffst im All der Möglichkeiten schon immer eine Vorauswahl. Du wählst voraus Stimmlage, Lautstärke, Häufigkeit, Haltung, ja sogar „Laune“, in der du etwas äußerst, ohne dich vor der Riesenmöglichkeit deiner (zu allermeist unbewusst getroffenen) Auswahl zu fürchten. Panik trifft dich erst, wenn du keinen Erfolg hast, scheu wirst und dich frägst: Was soll ich denn noch alles machen?
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Angesichts der Fülle, die das Leben bietet, bestehen die Reize, die du aussendest, um dein Kind zu etwas zu bewegen, in einer übersichtlichen Zahl, vergleichbar mit den Kügelchen einer Schrotladung. Eine solche legt man bei der Jagd auf kleine Beutetiere an. Jägerehre verlangt beim größeren Wild jedoch den Einsatz einer Kugel möglichst nur für einen einzigen Schuß. Nun wollen wir dein Kind zwar nicht erlegen, aber „treffen“ wollen wir durchaus. Also Bild beiseite: Um das Herz deines Kindes zu erreichen, genügt manchmal weniger als ein Wort. Tonfall, Geste, Fingerzeig oder eine andere Haltung, in der du unmißverständlich deinen Wunsch, nun aber bewusst, ausdrücken magst.
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Man nennt das auch, die Dinge auf den Punkt bringen. Warum wollen wir mehr? Haben wir vergessen, wie winzig angesichts aller Möglichkeiten das ist, was wir als Beiwerk, flankierende Maßnahmen oder Erklärungen vorbringen? Weshalb probieren wir nicht Begrenzung auf das Notwendigste und auf das Vertrauen, daß Elternwille in dem Wenigen, was zu äußern ist, waltet und auch von eurem Kind erfaßt wird wie etwas Göttliches? Es braucht aber Gelegenheit, um diesen Willen, den ihr ihm zufließen lasst, aufzunehmen und zu verarbeiten. Manchmal ist es damit getan, daß ihm mehr Zeit gewährt wird, wie das Emmi Pikler in ihrem Buch Laßt mir Zeit!1 schon für die frühste Kindheit verlangt.
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Aber Zeit ist ja, wie wir früher2 gesehen haben, eine Illusion. Ein kleines Kind kennt überhaupt keinen Zeitbegriff. Deswegen präzisieren wir den Piklerschen Buchtitel in: Gebt mir Gelegenheit! Du kannst auch Chance dazu sagen: Gebt mir eine Chance! Das klingt dann schon dramatischer, als hätte sein letztes Stündlein geschlagen. Aber ist es nicht so? Wenn ein Kind keine Chance erhält, selbständig seine Schleife am Schuh zu binden, dann hat irgendwann auch das letzte Stündlein geschlagen, hieraus für sein weiteres Leben Kapital zu schlagen. Sicher, es kommen immer wieder Gelegenheiten, eigenständig zu werden; aber die Chance, sich das vital am Schleifebinden einzuverleiben, ginge dann ungenutzt vorüber.
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Weltraumfahrer, wenn es denn solche gibt, brauchen ein „Zeitfenster“. Wer oder was ins All drängt, braucht solche Zeitluken, um mit optimalem Energieeinsatz das Ziel zu erreichen. Das bedeutet übertragen auf den Umgang mit Kindern: Wenn der Zeitpunkt vorüber ist, etwas in einer bestimmten Form zu äußern, sollte man diese Art unter keinen Umständen mit Gewalt wiederholen. Mit einer anderen Zeit kommt ein anderer Ausdruck in Sicht. Auch das ist ein Merkmal des Alls: Es gebiert ständig Gelegenheiten für neue Formen. Orientieren wir uns doch am Spiel junger Welpen: In jeder Sekunde kreieren sie neue Stellungen, an denen wir Entzücken finden. Das ist beim Kind nicht anders, auch ohne die Geschwindigkeit kleiner Katzen. Die Seele ist dagegen noch viel schneller. Die Seele ermöglicht uns das Schnellste, das wir kennen: Gedanken fassen. Und die Gedanken sind unsere „Fenster zum All“. Kennen wir, kennst du das All deiner Gedanken?
© (eah) 21. Dezember 1998 und 5. August 2020
1 Emmi Pikler: Laßt mir Zeit: Die selbständige Bewegungsentwicklung des Kindes bis zum freien Gehen. Untersuchungsergebnisse, Aufsätze und Vorträge (München Aber2001: Richard Pflaum Verlag) 246 Seiten.
2 Die Stelle ist nicht auffindbar. Vermutlich bezog ich mich auf die subjektiv in Bezug auf das Dauerempfinden sehr unterschiedlich erlebten Zeitqualitäten. Auch in der Printausgabe steht an dieser Stelle: Aber Zeit ist ja, wie wir schon gesehen haben, eine Ordnung stiftende Illusion. (Abenteuer Erziehung, Seite 161), ohne dass die früher geführte Erörterung gefunden werden könnte.
„Aber Zeit ist ja, wie wir früher gesehen haben, eine Illusion. Ein kleines Kind kennt überhaupt keinen Zeitbegriff.“
Ein Kind lebt immer in der Gegenwart.
Deswegen bringt es auch nichts, es später dafür zu bestrafen, für Sachen die es vermeintlich angestellt hat.
Kenne das von vielen Eltern.
Wird abends noch besprochen, was der Kleine tagsüber ungehorsam getan hat.
Verstehen kleine Kinder nicht.
Im Übrigen verstehen auch Kinder nicht, wenn man sie (im 1. Jahrsiebt) zurecht weisst.
Besser man sagt, da haben deine Hände das und das gewollt. Oder deine Füße wollten nicht so wie es sein soll.
Niemals das Kind kopfmäßig darauf hinweisen.
Lieber Ecky, ich mag deine Artikel sehr.
Würden die Eltern doch ihren Kindern mehr Zeit widmen.
Geht aber nicht, schufften alle für den Staat. Und geben die Kleinen in Aufbewahrungsanstalten ab, Kinder-Krippe.
Später gehen diese Eltern selbst in Aufbewahrungsanstalten, Senioren-Heime.
Diese Gedanken mache ich mir schon seit vielen Jahren. Heute kann ich sehen wie emotionslos diese Gesellschaft geworden ist.
Gibt aber auch Lichtblicke. Meine Tochter hat ihre Kleine nicht impfen lassen. Und glaubt auch nicht an die Krone.
Noch eine kleine Geschichte.
Saß mit meiner Enkelin, 3 Jahre, am See und es flogen gerade vermehrt die Samen von den Weiden über den See.
Da meinte sie, Oma es schneit.
Einfach köstlich.
„Wenn ein Kind keine Chance erhält, selbständig seine Schleife am Schuh zu binden, dann hat irgendwann auch das letzte Stündlein geschlagen, hieraus für sein weiteres Leben Kapital zu schlagen. Sicher, es kommen immer wieder Gelegenheiten, eigenständig zu werden; aber die Chance, sich das vital am Schleifebinden einzuverleiben, ginge dann ungenutzt vorüber.“
Welches Kind hat noch Schuhe mit Schnürbinden? Ich kenne keines. Und schau dich in den Schuhgeschäften für Kinderschuhe um. Klettverschluss ist der Renner.
Damit ein Kind eigenständig werden kann braucht es das Vorbild des Erwachsenen.
Punkt.
Braucht tätige Menschen und vor allem wahrhaftige Menschen in seiner Umgebung. Müssen nicht immer die Eltern sein.
Das erste Jahrsiebt ist prägend für die ganze Biografie. Das Kind lebt von Nachahmung.
Welches Elternhaus kann da heute noch?
Sind echt die Ausnahmen.
Die Folgen einer solchen Kindheit und damit unserer Gesellschaft sind nicht sehr erfreulich.
Kann man nur hoffen, dass hier Seelen inkarniert werden, die das Ruder rumreissen.
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Das bestreben einiger Menschen ist es die Computer und Roboter immer mehr menschlicher zu machen, und merken garnicht mehr das die selben Begeisterte den Roboter immer ähnlicher werden. Gefühllos auf Abstand, vereinsamt Kommunikation arm. Corona ist ein Brandbeschleuniger zur Seelenlose Gesellschaft. Was die IT Technik nicht schafft, schaffen die Virologen Lügner und die Geldgeber im hintergrund.
Darum haben einige Menschen die Demo in Berlin wie eine Party empfunden. Weil sie genau dies auch wollten, sich wieder natürlich Verbal in engen Kontakt austauschen wie wir Menschen eben sind. Wir sind Herdentiere die einander brauchen. Dieses natürliche Bedürfnis kommt irgendwann wieder durch und ist stärker als alle maßnahmen dieser Welt.
Und in dem wir Sorgen das unsere Kinder dies auch bekommen, wird es weiter Leben und gedeihen.
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Das sind wertvolle Kommentare, für die ich dankbar bin. Dass Schleifebinden war 1998 noch vorhanden, Gerd Jansen hat es als Therapeutikum zur freien Entfaltung in seinen verhaltenspädagogischen verwendet. Es ist mir lieb, wenn solches nicht von mir als Anmerkung, sondern aus dem Kreis der Mitdenkenden geboten wird.
Mir ging es um die „Einverleibung“ im Elternhaus erfahrener Techniken, die für die Entwicklung der Selbständigkeit nutzbar wird, wenn sie zu rechten Zeit erfolgt.
Im Waldorf Unterricht geschieht das durch „Epochen“, zum Beispiel die Physik zu zeigen, um der mit etwa 12 erwachenden kausalen Denkweise des fünften Schuljahr geistig brauchbare Nahrung zuzuführen.
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