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Erwins Badezimmer 6 / Ich lege meine Hand auf dich

Gerne, lieber Leser, verrate ich dir als Appetitanreger die Quintessenz der Geschichte, wörtlich übernommen von deren Schluss:

„…eine lehrreiche Geschichte, die euch zeigen kann, wohin es führt, wenn einer glaubt, er wisse schon, was der andere mit seinen Worten meint. Achtet also künftig genau auf das zärtliche Geflüster eurer Liebsten, meine Herren, und ihr, schöne Damen, glaubt nicht gleich alles, was euch die Herren ins Ohr raunen.“

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Das Buch sei nicht verlegt, es sei nur antiquarisch aquirierbar.

Sollte dies eine Falschinformation sein, so lasse es mich bitte wissen, lieber Leser. Wir machen hier keinem Verlag Konkurrenz, ich würde die Folge sofort stoppen und den Verlag dick fett hier eintragen.

20.02.2015 thom ram

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Die Saga von Rudimer Fahlbart

Aus: Erwins Badezimmer von Hans Bemmann, dem Autor auch von „Stein und Flöte“.

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Zur Zeit der sieben Kleinkönige lebte in der Gegend von Burleby ein Mann namens Rudimer, den man wegen seines bleichen Kinnhaares Rudimer Fahlbart nannte. Er besaß einen ansehnlichen Hof, zu dem das grüne Hügelland zwischen Burleby und den Ödbergen gehörte. Dort weidete auf den Grashängen sein Vieh, das waren tausend Schafe und fünfhundert Rinder. Rudimer genoß großes Ansehen als Viehzüchter. Seine Schafe waren fett und brachten starke Wolle, seine Rinder waren fleischig und gaben reichlich Milch.
Reichtum und Erfolg machten Rudimer stolz. Er hielt sich für einen besonderen Mann. Aus diesem Grund blieb er lange Zeit unverheiratet, denn keines unter den heiratsfähigen Mädchen war ihm recht. „Zu einem besonderen Mann gehört eine besondere Frau«, pflegte er zu sagen, wenn ihn ein anderer Hofbesitzer darauf ansprach in der Hoffnung, die eigene Tochter gut versorgt zu wissen oder durch eine solche Heirat Einfluß auf den großen Besitz dieses Mannes zu gewinnen. Und wenn seine Freunde das Gespräch darauf brachten, sagte Rudimer: »Soll ich eine Frau nehmen, die genauso spricht wie meine Mägde, von denen mir jede nach Wunsch zu Willen ist?« Denn wenn ihn die Lust überkam, holte er sich nach Belieben eine Magd aus dem Gesindehaus und schlief mit ihr. So liefen auf dem Hof auch schon ein paar bleichhaarige Kinder umher, die Rudimer zum Gesinde zählte. Wenn einer seiner Freunde darüber eine Bemerkung fallenließ, lachte Rudimer und sagte: »Auf diese Weise habe ich nie Mangel an Knechten und Mägden.«
So lebte Rudimer bis zum Opferfest in jenem Jahr, als der Mond sich verfinsterte. Zu diesem Fest trafen sich alljährlich zu Frühlingsbeginn die Völkerschaften der sieben Kleinkönige auf dem Sonnenkogel in den Ödbergen. Auch Rudimer machte sich mit seinem Gesinde auf den Weg, und mit sich führte er zehn fette Hammel und fünf starke Jungstiere, um sie im Angesicht der aufgehenden Sonne auf dem Kogel zu schlachten. Zwei Tage vor dem Fest traf er mit seinen Leuten bei der Opferstätte ein.
Es war seit alters her Brauch, daß sich die Völker der Kleinkönige in sieben Lagern zusammenfanden, die rings um den Berg verteilt waren, jedes an dem Platz, an dem der Weg aus ihren Wohngebieten auf den Berghang traf. Rudimer ließ also sein Zelt beim Lager Burros, des Kleinkönigs von Burleby, aufstellen und kümmerte sich darum, daß seine Leute die Opfertiere in einen Pferch sperrten und mit Futter versorgten. Dann brach die Dämmerung herein, und er beschloß, das eine oder andere Lager der Kleinkönige zu besuchen, um Bekannte zu treffen oder einen günstigen Viehhandel abzuschließen.
Er ging über die Wiesen am Hang des Kogels entlang durch die hereinbrechende Dunkelheit und kam schließlich an einen Bach. Während er eine schmale Stelle suchte, an der er über das Wasser springen konnte, hörte er, daß hinter einem Erlengebüsch jemand badete. Neugierig bog er die Zweige auseinander und sah eine Frau, die nackt im Bach stand und sich wusch.
Das war ein Abenteuer nach Rudimers Sinn. Er drängte sich durch die Zweige und stand schon im flachen Wasser vor der Frau, ehe sie sich umwenden und fliehen konnte. Sie war von schöner Gestalt. Ihr schwarzes Haar glänzte wie das Gefieder des Raben, und ihre Augen zeigten keine Furcht.
»Wer bist du?« fragte die Frau.
Aus ihrer Redeweise erkannte Rudimer, daß sie zu den Friesjackenleuten gehörte, die jenseits des Berges lagerten. Sie verwendeten zwar die gleichen Wörter wie die Leute von Burleby, sprachen sie aber anders aus und gaben ihnen zuweilen auch einen anderen Sinn. Rudimer wollte seinen Namen verschweigen, aber die ruhige Bestimmtheit der Frage zwang ihn zur Antwort, und er nannte der Frau seinen Namen. „Dann bist du wohl jener Rudimer, den sie Fahlbart nennen?« sagte die Frau und blickte lächelnd auf sein Kinn. „Der bin ich«, sagte Rudimer. »Gut“, sagte die Frau. »Ich wollte nur wissen, ob du ein Herr bist oder ein Knecht. Jetzt weiß ich es. Rudimer, ich gebe mich dir hin.«
Rudimer war verblüfft. Was er sich mit Zwang nehmen wollte, wurde ihm ohne weiteres angeboten. Er hob die Frau auf seine Arme, trug sie zum Ufer und legte sie ins Gras.
»Du handelst wenig ehrenhaft, Rudimer«, sagte da die Frau. »Wieso?« sagte Rudimer. „Versprachst du nicht, dich mir hinzugeben?« Die Frau blickte ihn nachdenklich an. »So verstehst du das also«, sagte sie dann. »Da muß wohl gehalten werden, was versprochen wurde.« Und so nahm Rudimer im Dunkel auf der Wiese die Frau und stillte seine Lust. Er merkte aber, daß sie noch unberührt war. Als die Frau ihre Kleider anlegte, sah Rudimer den reichen Schmuck, den sie an ihrem Gewand trug, und erschrak. »Wer bist du?« fragte er. »Danach fragst du zu spät«, sagte die Frau, »doch du erfährst es schon noch, wenn ich morgen meine Hand auf dich lege.«
Da erschrak Rudimer noch mehr; denn wenn man unter seinen Leuten sagte: >Ich lege meine Hand auf dich<, dann bedeutete das, jemanden zum Gefangenen oder Leibeigenen zu machen, der einem auf Tod und Leben gehörte. Ehe er noch etwas erwidern konnte, ging die Frau über die Wiese davon und verschwand im Dunkel. Rudimer aber kehrte zurück zu seinem Zelt und wußte nicht, was er von alledem halten sollte. Die ganze Nacht über lag er schlaflos und dachte an die Frau am Bach.
Am Vortag des Festes pflegten die Kleinkönige zu einer Beratung zusammenzukommen, um bei dieser Gelegenheit Streitfälle zu schlichten, Zuchtvieh zu tauschen oder Heiraten unter den Königsfamilien abzusprechen. Damit keiner bevorzugt wurde oder gar als der Mächtigste unter ihnen erschien, fand die Versammlung reihum jeweils im Zelt eines der Könige statt, so daß jeder alle sieben Jahre der Gastgeber war. In diesem Jahr war die Reihe an Belegar, der jenseits der Ödberge als Kleinkönig über die Friesjackenleute herrschte. Ihr Land grenzte im Norden ans Meer, und sie lebten in der Hauptsache von Fischfang und Strandräuberei.
Am Morgen dieses Tages trat König Burro in Rudimers Zelt und forderte ihn auf, als sein Gefolgsmann an der Beratung teilzunehmen. Das war eine große Ehre für Rudimer, die er nicht zurückweisen konnte, ohne den König zu erzürnen. Rudimer wußte, daß die Versammlung in diesem Jahr bei den Friesjackenleuten im Zelt König Belegars stattfinden würde, und dachte mit Sorge an die Frau, die heute ihre Hand auf ihn legen wollte. »Du kannst nur wenig Ehre mit mir einlegen«, sagte er zu Burro, »denn meine Knechte vergaßen, mein Festgewand mitzunehmen.« Das war aber eine Lüge. »Ich brauche den Mann und nicht das Kleid«, sagte Burro. »Wenn du nicht mitkommen willst, muß ich mir wohl einen anderen Berater suchen«, und er wandte sich zum Gehen. Rudimer begann um sein Ansehen bei den Leuten von Burleby zu fürchten. »Warte!« sagte er. „Wenn’s dir nicht drauf ankommt, daß ich in ärmlicher Reisekleidung mit dir zur Beratung gehe, will ich dich gern begleiten.« Er hoffte aber, daß man ihm auf diese Weise weniger Beachtung schenken würde. Er nahm sein Schwert von der Zeltstange und wollte es sich umgürten, doch Burro sagte: »Laß das! Du weißt doch, daß man waffenlos zur Beratung kommt.«
Rudimer ging also mit König Burro am Hang entlang hinüber zum Lager der Friesjackenleute und trat nach dem König in Belegars Zelt. Belegar kam ihnen entgegen, begrüßte sie und wies ihnen ihren Platz im Kreis der anderen Kleinkönige an, die schon dort saßen. Dann ging er zu seinem Hochsitz zurück und setzte sich. Erst jetzt sah Rudimer mit Schrecken, daß neben dem König auf dem Ehrenplatz jene Frau saß, die an diesem Tag ihre Hand auf ihn legen wollte. Daß eine Frau im Rat der Männer saß, war in Burleby nicht üblich, aber bei den Friesjackenleuten standen die Frauen in hohem Ansehen und durften in der Versammlung das Wort nehmen.
Rudimer blieb, wie es Brauch war, hinter dem Sitz König Burras stehen. Die Frau blickte ihn nur kurz an und wendete dann die Augen ab, als kenne sie ihn nicht. Dann wurde den Gästen ein Willkommenstrunk gereicht, und die Beratungen begannen. Rudimer mußte immer wieder zu dieser Frau blicken, und er erkannte jetzt erst richtig, wie schön sie war. Doch dies erhöhte nur seine Furcht, so daß er kaum imstande war, dem Gang der Beratungen zu folgen. König Burro mußte ihn mehrmals zurechtweisen, als er ihn etwas fragte und keine Antwort erhielt. »Du bist zerstreut, Rudimer«, sagte er spöttisch. »Verwirrt die schöne Mara deine Sinne? Man sagt ja von dir, daß du eine besondere Frau suchst. Nimm dich in acht, das Besondere birgt auch besondere Gefahren! Sie ist die Tochter König Belegars.« Da verfluchte Rudimer seinen aus Stolz gefaßten Entschluß, König Burro zu der Beratung zu begleiten.
Als die Beratungen zu Ende gingen, fragte König Belegar nach alter Sitte, ob noch jemand da sei, der etwas vorzubringen habe. Da stand Mara auf, ging auf Rudimer zu, legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte: »Ich lege meine Hand auf diesen Mannnamens Rudimer Fahlbart.«
Rudimer tastete nach seinem Schwertgurt, ehe ihm bewußt wurde, daß er waffenlos war. »Warum erschrickst du?« fragte Mara lächelnd. »Ich gedachte, in deinem Sinne zu handeln. Warum trägst du keine Festkleider? Wenig Ehre gewinne ich so mit dir!“ »Wozu Festkleider?« stammelte Rudimer, der nun überhaupt nicht mehr wußte, woran er war. »Wollt ihr mich auf dem Berge darbringen wie ein geschmücktes Opfertier?« „Wer hier das Opfer ist, muß sich noch zeigen“, sagte Mara und stellte sich an Rudimers Seite, noch immer die Hand auf seiner Schulter.
Jetzt stand König Burro auf und wendete sich an Belegar: »Warum wird hier die Hand auf meinen Gefolgsmann gelegt?« fragte er aufgebracht. »Wenn eine Untat vorliegt, dann soll sie erst zur Sprache gebracht werden.« „Du mißverstehst das“, sagte Belegar. »Was gibt es da falsch zu verstehen?“ erwiderte Burro. »Wer diese Worte spricht, verlangt den anderen auf Leben und Tod zu eigen.« »So ist es«, sagte Belegar, »und doch ist es anders, als du meinst. Wenn bei uns eine Frau diese Worte zu einem Manne spricht, dann begehrt sie ihn zur Ehe. Dazu haben unsere Frauen das Recht.« Dann stand er auf und ging zu den beiden hinüber, die noch immer nebeneinander standen. „Schnell hast du dich entschieden, meine Tochter“, sagte er. »Ich kann nicht behaupten, daß ich deine Wahl billige; denn ich gedachte dich mit einem Manne aus unserem Volk zu erheiraten. Aber es ist dein Recht, selbst zu wählen.«
»Ich gab mich ihm hin“, sagte Mara, »und so wirst auch du ihn als meinen Mann annehmen müssen.« Rudimer erschrak bei diesen Worten, und auch König Burro zog erstaunt die
Augenbrauen hoch. Belegar jedoch nickte nur zustimmend. Seltsame Bräuche haben diese Friesjackenleute, dachte Rudimer bei sich. In Burleby pflegte man ein Mädchen für eine solche Tat im Moor zu versenken und den Mann kurzerhand zu erschlagen. Er fragte sich, ob ihm hier nun eine Ehre erwiesen oder eine Schmach angetan wurde, und wußte nicht, wie er sich verhalten sollte. »Willst du meine Tochter zurückweisen?« fragte König Belegar, und diese Frage klang nun wirklich wie eine Drohung. »Er kennt unsere Bräuche nicht«, sagte Mara und wendete sich an Rudimer. »Nach allem, was ich von dir weiß, begehrst du mich zur Frau. Also lege deine Hand auf meine Schulter und sprich die gleichen Worte, die ich zu dir sagte.« Und wieder konnte Rudimer sich dem Zwang ihrer Stimme nicht entziehen. Er folgte ihrer Aufforderung und sprach: »Ich lege meine Hand auf diese Frau namens Mara.«
Da sagte Belegar: »Nun soll kein Wort mehr darüber gesprochen werden, ob diese Heirat zu billigen ist oder nicht, denn sie ist nach dem Brauch geschlossen. Und du, Rudimer, sollst von mir jede Gabe erhalten, die du meiner Tochter gewährst.« So bekam Rudimer eine Mitgift im vollen Wert seines Besitzes von tausend Schafen und fünfhundert Rindern; denn die Strandräuberei brachte Belegar viele Reichtümer ein, jedenfalls mehr als der Fischfang. Am Tage nach dem Opferfest kehrte Rudimer mit seiner Frau Mara auf seinen Hof zurück, und die Knechte trugen schwer an den Schätzen, die Belegar seiner Tochter in die Ehe mitgab.
Rudimer hatte nun eine besondere Frau, die nicht nach der Redeweise seiner Mägde sprach und obendrein eine Königstochter war. Sie stand seinem Hauswesen vor und erwies sich als umsichtige Herrin, die freundlich zu dem Gesinde war, auch zu den bleichhaarigen Kindern, nach deren Herkunft sie nicht fragte. Doch Rudimer empfand seit seiner Heirat eine merkwürdige Unsicherheit, die ihren Anfang nahm in König Belegars Zelt am Tage vor dem Opferfest. Nicht daß er mit seiner Heirat unzufrieden war; Mara war so schön, daß ihm jedesmal das Herz bis zum Halse klopfte, wenn er sie sah, und er konnte noch immer nicht recht begreifen, daß sie nun seine Frau war, obwohl sie Nacht für Nacht sein Lager teilte. Die Ereignisse in Belegars Zelt und der Nacht zuvor erwähnte aber keiner von beiden je wieder mit einem Wort.
Rudimers Besitz hatte sich durch die königliche Mitgift verdoppelt, doch er fragte sich, ob dies sein Ansehen unter den Leuten von Burleby erhöhte. Zu deutlich erinnerte er sich der Befremdung, mit der König Burro Maras Geständnis anhörte. Wer wußte noch davon? Wer erzählte es wem weiter? Wenn Rudimer sich am Königshof aufhielt und sah, daß die Leute hinter vorgehaltener Hand tuschelten, fühlte er sich betroffen, und ein dumpfer Zorn stieg in ihm auf, dem er doch nicht nachgeben konnte, ohne sich bloßzustellen. So kam es, daß Rudimer dem Königshof immer öfter fernblieb und sich auch von seinen Freunden zurückzog. Dafür erschien er jetzt häufiger unversehens auf fernen Weideplätzen zum Schrecken der Knechte, die er hart strafte, wenn er sie nicht bei der Arbeit antraf oder gar bemerkte, daß einer von ihnen unvermittelt grinste. Sobald die Knechte dann wieder unter sich waren, beklagten sie die Launen ihres Herrn, und da sie die Ursache seines Zorns nicht in ihrem Verhalten, sondern bei jemand anderem suchten, verfielen sie darauf, die Schuld seiner Frau zuzuschieben. »Sie ist eben eine Fremde«, sagte einer von ihnen, ein anderer erinnerte sich, daß es schon bei dieser Heirat recht sonderbar zuging, und ein dritter meinte: »Nun sehen wir ja, was dabei herauskommt, wenn man den Weibern so viel Macht überläßt, wie die Friesjackenleute es tun. Womöglich ist diese Mara sogar allerlei bösen Zaubers mächtig.«
Um diese Zeit wurde Rudimer nach längerer Pause wieder einmal an den Hof König Burras gerufen, und während seiner Abwesenheit kam ein Mann aus dem Lande der …
Hier bricht die ältere Handschrift ab. Wenn ich nun den Versuch unternehme, die zuletzt geschilderten Ereignisse mit dem Ende der Geschichte zu verknüpfen, wie es in dem jüngeren Fragment überliefert ist, so ergeben sich meiner Meinung nach dafür folgende Anhaltspunkte:
Entsprechend der Stilistik des gesamten Textes der früheren Handschrift muß dem Gespräch der Knechte, das durch drei in ihrer Aggressivität sich jeweils steigernde Aussagen über Mara hervorgehoben wird, eine weiterführende Bedeutung zukommen. Man darf wohl den Schluß ziehen, daß dadurch auf nachfolgende Geschehnisse vorbereitet werden soll. Da man nun zu Beginn des zweiten Fragments Rudimers Frau in dem Augenblick begegnet, in dem sie offenbar gerade einem Anschlag auf ihr Leben entgangen ist, läßt sich eigentlich nur annehmen, daß Rudimers Knechte versucht haben, sie umzubringen.
Eine entscheidende Rolle scheint bei ihrer Rettung eben jener Mann gespielt zu haben, dessen Ankunft mit den letzten erhaltenen Wörtern der älteren Handschrift angekündigt wird. Ich zögere nicht, hier fortzusetzen:>… aus dem Lande der Friesjackenleute<. Dies ergibt sich klar aus den weiteren Aussagen des Schluß-Fragments, in dem jener so wenig bedankte Retter selbst auftritt. Der Zusammenhang, in dem dort später einmal von ihm die Rede ist, legt die Vermutung nahe, daß es sich um jenen Mann handelt, dem Belegar eigentlich die Hand seiner Tochter zugedacht hatte. Warum er allerdings auf Rudimers Hof kam und wie lange er sich dort aufgehalten hat, ehe es zu diesem Überfall kam, läßt sich nicht sagen. Es ist durchaus möglich, daß die Knechte hier einen vermeintlichen Ehebruch witterten oder diesen Verdacht zumindest zur Rechtfertigung ihres Mordanschlags vorschoben, aber das sind alles schon Spekulationen, für die sich im Text kaum konkrete Anhaltspunkte finden lassen. An dieser Stelle kann ich jedenfalls ohne weiteres mit dem Schluß der Geschichte fortfahren.
… kam Rudimer, ohne zuvor Nachricht gegeben zu haben, vom Königshof zurück. Man könnte fast meinen, daß er schon zu diesem Zeitpunkt seiner Frau, die sich ihm damals so widerstandslos hingegeben hatte, nicht traute. Ist es nicht so, daß mancher sich aus bloßem Mißtrauen selber zum Hahnrei macht, ohne noch eigentlich einer zu sein? Es war schon Nacht, als er auf sein Haus zuritt, und er erschrak, als er sah, daß die Tür offenstand und der Schein des Herdfeuers auf den Hof hinausfiel. Jeder von euch, meine lieben Herren, wird sich vorstellen können, was er dachte.
Nun ging alles sehr schnell: Er springt vom Pferd, und während er in langen Sätzen auf das Haus zuläuft und mit der Rechten schon sein Schwert in der Scheide lockert, wird die Tür vollends aufgestoßen, und Mara stürzt heraus. Sie ist halbnackt, nur um die Hüften schlappt noch ihr zerfetzter Rock. Hinter ihr tritt nun auch noch ein Mann aus der Tür, ein Fremder in einer Friesjacke, den Rudimer nicht kennt, und dieser Mann hält ein blankes Schwert in der Faust. .»Hast wohl gerade noch rechtzeitig aus dem Bett meiner Frau gefunden?« schreit Rudimer, reißt sein Schwert aus der Scheide und will auf den Mann eindringen. Da wirft sich Mara zwischen die beiden und ruft: „Laß ihn in Frieden! Wenn ich mich ihm nicht hingegeben hätte, wäre ich nicht mehr am Leben.«
Diese Worte gehen Rudimer völlig über den Verstand, und er sieht jetzt nur noch rot. »Daß du eine Hure bist, wußte ich schon immer!< brüllt er und stößt ihr sein Schwert in die nackte Brust. Der andere Mann steht wie erstarrt und blickt entsetzt auf Mara, die zu Füßen Rudimers in ihrem Blute liegt. »Du mißverstehst das alles, Rudimer!« sagt er tonlos, doch Rudimer ist nun nicht mehr zu halten. „Das sagt ihr Friesjacken immer, wenn ihr einen betrogen habt!« brüllt er, reißt seiner toten Frau das Schwert aus der Brust und rennt es dem Mann, der sich überhaupt nicht wehrt, in den Leib. Dann steht er eine ganze Weile mit dem bluttriefenden Schwert in der Hand mitten in dem dunklen Hof und starrt auf die beiden Leichen, über die das Herdfeuer einen blutroten, flackernden Schein wirft.
Ich hoffe, meine Damen und Herren, ihr habt das grausige Schauspiel hinreichend genossen. Wollt ihr jetzt hören, was weiter geschah? Ich will es euch erzählen: Nachdem Rudimer also eine Zeitlang so im Hof gestanden hatte, wagte sich endlich das Gesinde heraus, das sich während des Überfalls in alle möglichen Winkel verkrochen hatte. Die Leute waren allesamt ziemlich verstört und zudem nicht sonderlich erpicht darauf, ihrem Herrn unter die Augen zu treten und ihm zu erzählen, was sich hier zugetragen hatte, und ihr, meine schönen Damen und meine wackeren Herren, wißt es ja schon. So erfuhr Rudimer nur das Allernotwendigste, und er war in dem Zustand, in dem er sich befand, wohl auch nicht besonders schnell von Begriff. Soviel verstand er allerdings nach einiger Zeit, daß dieser Friesjacken-Mann seine Frau vor einem Mordanschlag gerettet hatte, und er konnte dann ja auch noch drei weitere Leichen besichtigen, nämlich jene dieser Viehknechte, die drinnen in der Stube lagen, wo sie sich, als sie noch lebten, erst ihren Spaß mit seiner Frau hatten machen wollen. »Und was war das für ein Friesjacken-Mann?« fragte er schließlich.
»Ein Gast der Herrin“, sagte eine Magd. »Er hieß Roger. Am Morgen war er zur Jagd ausgeritten und kam eben zur rechten Zeit zurück, um die Kerle zu erschlagen.« „Hat er schon vorher mit meiner Frau geschlafen oder erst nachher?« fragte Rudimer. Die Magd blickte ihn erschrocken an und schüttelte den Kopf. »Davon weiß ich nichts, Herr«, sagte sie. »Er hat die Herrin gerettet.« Sie brach unvermittelt ab und blickte hinüber zu Maras Leiche. »Sie hat sich ihm hingegeben«, sagte Rudimer dumpf, und das mag wohl so geklungen haben, als wolle er sich das nun mit aller Gewalt einreden. Aber es kann ja auch sein, daß er es wirklich geglaubt hat (und in gewissem Sinne stimmte es ja auch). Er soll diese Worte jedenfalls auch später immer wieder vor sich hingesagt haben, ob er nun allein war oder nicht. Das hatte wohl auch sein Gutes; denn die Leute von Burleby machten sich diese so oft wiederholte Meinung zu eigen, zumal der Totschlag zwei Landfremde betraf, und so kam es, daß auch König Burro seinen Gefolgsmann für diese Tat nicht zur Rechenschaft zog. Nach dem landesüblichen Brauch hatte Rudimer ja durchaus Rechtens gehandelt, als er die Ehebrecher erschlug. Wer wollte nun, da beide tot waren, noch ihre Unschuld beweisen? König Burro ließ jedenfalls die Sache auf sich beruhen und soll nur gesagt haben: »Was so fragwürdig begann, mußte wohl auch fragwürdig enden.«
Nun, meine hübschen Damen und edlen Herren, was haltet ihr von solchen Bräuchen? Sollte man sie vielleicht wieder einführen? Da sehe ich doch, wie mancher vor Schreck die Farbe aus den Wangen verliert! Aber ihr braucht euch nicht zu ängstigen. Denkt doch einmal nach: Würde sich heutzutage eine Mehrheit für eine solche Gesetzesvorlage finden lassen? Hört also in Ruhe, was danach weiter geschah.
Eine Zeitlang war diese Geschichte natürlich in aller Munde und drang schließlich auch über die Grenze in das Land der Friesjackenleute. Und hier brachte es Rudimer wenig Vorteil, wenn man erzählte, daß er die Königstochter und Roger nur deswegen erschlug, weil sie sich diesem Mann hingegeben habe. Als diese Geschichte König Belegar zugetragen wurde, sprang er auf, daß sein Hochsitz polternd um stürzte, raufte sich das Haar und schwor, jenen Mann -zur Rechenschaft zu ziehen, der dies seiner Tochter und einem seiner liebsten Gefolgsleute angetan hatte.
Darüber kam Rudimer nichts zu Ohren, aber er lebte dennoch seit dieser Tat in Unrast. Obwohl man ihm in Burleby nichts weiter nachtrug, schwand doch rasch sein Ansehen, und die Leute begannen, ihm aus dem Weg zu gehen. So trieb er sich zumeist auf den ferngelegenen Weiden in den Ödbergen herum, und dort lauerten ihm ein Jahr nach dem Totschlag Belegars Männer auf, brachten ihn in ihre Gewalt und führten ihn gefesselt vor ihren König.
Bei dem Bericht über das nun folgende Gespräch zwischen Belegar und Rudimer will ich mich treu an die Worte halten, die in der alten Saga überliefert sind; denn sie scheinen mir bemerkenswert genug zu sein. Belegar soll demnach gesagt haben: »Daß du meinen lieben Gefolgsmann Roger erschlagen hast; will ich dir nachsehen, obwohl mir das schwer genug fällt. Aber ich kann verstehen, daß du im Zorn das Schwert gegen einen Nebenbuhler gezogen hast, der Roger in gewissem Sinne sogar war. Aber für den Tod meiner Tochter mußt du mir jetzt Rechenschaft ablegen, und dabei will ich mich an mein Wort halten, dir alles zu geben, was du ihr gegeben hast. Oder kannst du deine Tat rechtfertigen?« Rudimer blickte ihn trotzig an und sagte: »Deine Tochter war eine Hure. Nicht nur, daß sie mir gleich bei unserer ersten Begegnung zu Willen war; sie hat sich auch diesem Roger hingegeben.« »Und was siehst du darin Böses?« fragte Belegar. „Ein volles Jahr warst du mit ihr verheiratet und weißt noch immer nicht, daß diese Redensart bei uns bedeutet, sich unter den Schutz eines anderen zu stellen? Hast du Maras Sprache so wenig geachtet?«
Erst in diesem Augenblick fiel es Rudimer wie Schuppen von den Augen oder besser: es sprang ihm wie Pfropfen aus den Ohren. Ein Jahr, nachdem er sein Weib erschlagen hatte, erkannte er nun ihre Unschuld“, senkte den Kopf und schwieg. Da legte ihm Belegar die Hand auf die Schulter und sagte: „Ich lege nun meine Hand auf dich, Rudimer.« Rudimer blickte überrascht auf, schien noch einmal Hoffnung zu fassen und sagte: »Wie soll ich das verstehen?« „Wie du es immer verstanden hast«, sagte Belegar. »Nachdem sich meine Tochter bei eurer ersten Begegnung deinem Sprachgebrauch gefügt hat, will auch ich jetzt das gleiche tun.« Nach diesen Worten ließ er Rudimer vor sein Haus führen und totschlagen. Ein trauriges Ende, wie ihr hört, meine lieben Damen und Herren, aber auch eine lehrreiche Geschichte, die euch zeigen kann, wohin es führt, wenn einer glaubt, er wisse schon, was der andere mit seinen Worten meint. Achtet also künftig genau auf das zärtliche Geflüster eurer Liebsten, meine Herren, und ihr, schöne Damen, glaubt nicht gleich alles, was euch die Herren ins Ohr raunen.

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* Hier steht nun der Satz fast wörtlich in Hadubalds Version. Diese durch sein Zitat belegte Textstelle läßt übrigens darauf schließen, daß sich der sehr viel jüngere Erzähler des Schluß-Fragments in der Tat zumindest in dieser Episode eng an die alte Überlieferung gehalten hat.

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1 Kommentar

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