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Jill – Opferdasein ade! 6

Auszug aus Colin Tipping: “Ich vergebe – Der radikale Abschied vom Opferdasein“

Folge 6 und Schluss.

Ich kam dann auf ihre Frage zurück: „Du brauchst nichts Besonderes

zu tun, wenn du nach Hause kommst. Ich möchte sogar,

dass du mir versprichst, erst einmal überhaupt nichts zu tun. Auf

keinen Fall solltest du Jeff von deiner neuen Sicht der Dinge berichten.

Ich möchte, dass du siehst, wie sich alles allein schon

durch deine Wahrnehmung eurer Situation ändert.“

„Du wirst außerdem das Gefühl haben, dass du dich selbst geändert

hast“, fügte ich hinzu. „Du wirst dich innerlich ruhiger,

mehr in dir selbst und entspannter fühlen. Du wirst eine innere

Gewissheit ausstrahlen, die Jeff eine Zeit lang möglicherweise

Jills Geschichte

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etwas seltsam vorkommt. Es wird eine Zeit brauchen, bis sich

deine Beziehung zu ihm einrenkt. Möglicherweise ist es am Anfang

noch etwas schwierig, doch das Problem wird sich nun lösen“,

schloss ich voll Überzeugung.

Jill und ich sprachen noch häufig über die Einzelheiten ihrer Situation,

bevor sie wieder nach England zurückkehrte. Es ist immer

schwierig für jemanden, die Perspektive der Radikalen Vergebung

anzunehmen, wenn er emotional stark belastet ist. Um

so weit zu kommen, dass Radikale Vergebung wirklich stattfinden

kann, muss man sich damit häufig erst einmal gründlich

befassen und sich diese neue Perspektive immer wieder vor Augen

führen. Zur Unterstützung zeigte ich meiner Schwester einige

Atemtechniken, die ihr dabei helfen würden, Gefühle freizusetzen

und neue Lebensmöglichkeiten zu integrieren. Außerdem

bat ich sie, ein Arbeitsblatt zur Radikalen Vergebung auszufüllen

(siehe Teil IV: Werkzeuge zur Radikalen Vergebung).

An dem Tag, als Jill abreiste, war sie offensichtlich etwas unsicher

bei der Aussicht, in ihre alte Lebenssituation zurückzukehren.

Nachdem sie sich am Flugsteig verabschiedet hatte, schaute sie

noch einmal zurück und versuchte, so zuversichtlich wie möglich

zu winken. Doch ich wusste, sie hatte große Angst, ihr neu gefundenes

Verständnis wieder zu verlieren und erneut in die Dramatik

der Situation verwickelt zu werden.

Offensichtlich verlief das Wiedersehen mit Jeff dann zufriedenstellend.

Jill bat ihn, sie nicht sofort darüber zu befragen, was mit

ihr während ihrer Reise geschehen sei. Außerdem erbat sie sich

während der nächsten Tage etwas Distanz, um sich einzufinden.

Sie stellte jedoch sofort einen Unterschied bei Jeff fest. Er war

aufmerksam, freundlich und einfühlsam – eher wie der Jeff, den

sie aus der Zeit vor der traurigen Episode kannte.

Während der nächsten Tage sagte Jill Jeff, sie mache ihn nicht

mehr länger für irgendetwas verantwortlich. Ebenso wenig wolle

Teil I

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sie, dass er sich in irgendeiner Weise ändere. Sie habe herausgefunden,

dass sie selbst für ihre Gefühle verantwortlich sei. Sie werde

mit allem, was geschehe, auf ihre eigene Weise fertig werden, ohne

ihm Vorwürfe zu machen. Sie ging nicht näher ins Detail und versuchte

auch nicht, sich für irgendetwas zu rechtfertigen.

Die Dinge liefen für einige Tage gut, und Jeffs Verhalten gegenüber

seiner Tochter Lorraine änderte sich dramatisch. Tatsächlich

schien in Hinblick auf ihre Beziehung alles wieder so zu werden

wie früher. Doch die Atmosphäre zwischen Jeff und Jill war nach

wie vor gespannt, und ihre Kommunikation blieb sehr eingeschränkt.

Etwa zwei Wochen später spitzte sich die Situation zu. Jill schaute

Jeff an und sagte leise: „Ich habe das Gefühl, ich habe meinen

besten Freund verloren.“

„Ich auch“, erwiderte er.

Zum ersten Mal seit Monaten verstanden sich die beiden. Sie

umarmten einander und weinten. „Lass uns reden“, sagte Jill.

„Ich muss dir sagen, was ich mit Colin in Amerika gelernt habe.

Es mag sich für dich vielleicht zuerst etwas seltsam anhören, aber

ich möchte es dir erzählen. Du musst es mir nicht glauben. Willst

du es hören?“

„Auf jeden Fall“, erwiderte Jeff. „Ich weiß, dass da etwas Wichtiges

mit dir passiert ist. Ich möchte wissen, was! Du hast dich

sehr zu deinem Vorteil verändert. Du bist nicht mehr derselbe

Mensch, der damals mit John ins Flugzeug stieg. Erzähle mir, was

geschehen ist.“

Jill redete und redete. Sie erklärte die Dynamik der Radikalen

Vergebung, so gut sie konnte – und so, dass Jeff sie verstand. Sie

fühlte sich stark und aktiv. Sie war ihrer selbst sicher und zuversichtlich,

dass sie alles richtig begriffen hatte. Sie war klar in dem,

was sie darüber dachte.

Jills Geschichte

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Jeff, ein Praktiker, der allem, was nicht rational erklärbar ist,

skeptisch begegnet, sträubte sich dieses Mal nicht. Im Gegenteil,

er war sehr zugänglich. Er zeigte sich sehr offen für die Vorstellung,

dass sich hinter der alltäglichen Realität noch eine spirituelle

Welt befindet. Auf dieser Basis erschien ihm das Konzept der

Radikalen Vergebung einleuchtend. Er akzeptierte es zwar nicht

vollständig, war aber bereit zuzuhören und es zu überdenken.

Und zu sehen, wie dieses Konzept Jill verändert hatte.

Nach ihrem Gespräch spürten beide, wie ihre Liebe wieder erwachte.

Sie hatten das Gefühl, ihre Beziehung habe eine neue

Chance. Sie machten einander jedoch keine Versprechungen und

kamen überein, miteinander zu reden und zu sehen, wie ihre

Beziehung sich entwickeln werde.

Tatsächlich entwickelte sich ihre Beziehung sehr gut. Jeff behandelte

seine Tochter Lorraine noch immer sehr fürsorglich, aber

nicht so sehr wie vorher. Jill merkte, dass sie sich kaum noch etwas

daraus machte, – selbst wenn Jeff sich so benahm wie früher.

Sie fühlte sich nicht mehr wie ein Kind, und sie ließ sich nicht

mehr von ihrem alten Glauben über sich selbst leiten.

Innerhalb eines Monates nach ihrem Gespräch über Radikale

Vergebung endeten Jeffs alte Verhaltensmuster Lorraine gegenüber.

Lorraine wiederum rief nicht mehr so häufig an und kam

nicht mehr so oft zu Besuch. Sie führte wieder ihr eigenes Leben.

Alles renkte sich allmählich wieder ein, und ihre Beziehung wurde

sicherer und liebevoller als je zuvor. Jeff war der zuvorkommende

und einfühlsame Mann, der er von Natur aus ist. Jill war

weniger bedürftig, und Lorraine war viel glücklicher.

Im nachhinein bin ich sicher: Jill und Jeff hätten sich scheiden

lassen, wenn Jills Seele sie nicht nach Atlanta geführt hätte, um

unser Gespräch zu ermöglichen. In einem großen Zusammenhang

wäre dies sicherlich auch in Ordnung gewesen. Jill wäre jemand

anderem begegnet, mit dem sie das Drama ihres Lebens

Teil I

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inszeniert und eine weitere Gelegenheit zur Heilung gefunden

hätte. So hat sie die Chance zu heilen wahrgenommen und ist in

ihrer Beziehung geblieben.

Heute, viele Jahre nach dieser Krise, sind die beiden noch immer

zusammen und führen eine glückliche Ehe. Wie wir alle inszenieren

auch die beiden weiterhin dramatische Situationen. Doch sie

wissen, wie sie diese als Gelegenheit zur Gesundung nutzen und

so schnell und leicht wie möglich auflösen können.

P. S.: Das Diagramm auf der folgenden Seite zeigt Jills Geschichte in

grafischer Form. Sie fand diese Sichtweise sehr hilfreich. Das Diagramm

zeigt die Entwicklung des ursprünglichen Schmerzes, sich vom Vater nicht

geliebt zu fühlen, zur Überzeugung, nicht gut genug zu sein. Und zeigt

weiterhin, wie diese Wahrnehmung sich in ihrem Leben niederschlug. Sie

können diese Darstellungstechnik auf ihren eigenen Lebensweg anwenden,

falls Sie Parallelen oder Ähnlichkeiten erkennen.

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Jill – Opferdasein ade! 5

 

Auszug aus Colin Tipping: “Ich vergebe – Der radikale Abschied vom Opferdasein“

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Folge 5

.

Ich spürte, dass Jill die beschriebenen Prinzipien besser verstehen

würde, wenn wir eine Beziehung zur aktuellen Situation herstellten.

Also forderte ich sie auf: „Lass uns noch einmal auf Jeff zurückkommen

und sehen, wie diese Prinzipien in deiner gegenwärtigen

Beziehung aktiv sind. Am Anfang ist Jeff extrem liebevoll

mit dir umgegangen. Er schwärmte für dich, tat alles für

dich, kommunizierte mit dir. An der Oberfläche schien das Leben

mit Jeff ziemlich gut zu sein.“

„Denk’ jedoch daran, dass dies nicht zu dem Bild passte, was du

von dir selbst hattest – deinem Glauben über dich selbst. Danach

durftest du keinen Mann haben, der dir soviel Liebe entgegenbringt.

Schließlich bist du ja nicht gut genug.“

Jill nickte zustimmend, aber wirkte noch immer unsicher und

ziemlich perplex.

„Deine Seele weiß, dass du diese Überzeugung heilen musst, also

verbündet sie sich mit Jeffs Seele, um es dir deutlich zu machen.

An der Oberfläche scheint es, als würde Jeff anfangen, sich seltsam

und ungewöhnlich zu verhalten. Dann verhöhnt er dich,

indem er eine andere Lorraine liebt und so dasselbe Theater veranstaltet,

das du vor vielen Jahren mit deinem Vater durchlitten

hast. Er scheint dich gnadenlos zu verfolgen, und du fühlst dich

Teil I

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vollkommen hilflos und als Opfer. Beschreibt dies mehr oder

weniger deine gegenwärtige Situation?“, fragte ich.

„Ich glaube schon“, sagte Jill leise. Sie runzelte etwas die Stirn,

als versuche sie, das neue Bild ihrer Situation allmählich klar zu

sehen.

„Nun, es ist mal wieder soweit. Du hast die Wahl. Du kannst

dich entscheiden, zu heilen und zu wachsen – oder Recht zu

haben“, sagte ich und lächelte sie an.

„Wenn du die Wahl triffst, die Leute normalerweise treffen, wirst

du dich dafür entscheiden, lieber das Opfer zu sein und Jeff zu

beschuldigen. Das ermöglicht es dir, im Recht zu sein. Schließlich

scheint sein Verhalten ziemlich grausam und ungerecht. Es gibt

zweifellos viele Frauen und Männer, die dich dabei unterstützen

würden, solltest du als Reaktion darauf drastische Schritte einleiten.

Haben nicht die meisten deiner Freunde gesagt, du solltest

ihn verlassen?“

„Ja. Alle meinen, ich solle diese Ehe beenden, wenn er sich nicht

ändert. Ich hatte eigentlich gedacht, du würdest das auch sagen“,

sagte sie mit einem enttäuschten Unterton.

„Vor ein paar Jahren hätte ich es wahrscheinlich auch getan“, sagte

ich und lachte. „Seit meiner Einführung in diese spirituellen

Prinzipien hat sich meine Sichtweise solcher Situationen jedoch

geändert, wie du sehen kannst“, erklärte ich und lächelte John

verschmitzt an. Er lächelte zurück, schwieg aber.

Ich fuhr fort: „Du hast es sicher bereits vermutet. Die Alternative

besteht darin, anzuerkennen, dass unter der Oberfläche des

Geschehens noch etwas weitaus Bedeutenderes – und möglicherweise

sehr Nützliches – vor sich geht. Die Alternative besteht

also darin, anzuerkennen, dass Jeffs Verhalten eine andere Botschaft

beinhaltet, eine andere Bedeutung und Absicht; und dass

sich in der Situation ein Geschenk für dich verbirgt.“

Jills Geschichte

30

Jill dachte eine Weile nach und sagte dann: „Jeffs Verhalten ist so

daneben, dass man sich schon ziemlich anstrengen muss, um

eine vernünftige Erklärung dafür zu finden. Vielleicht geht da ja

noch etwas vor sich, das ich momentan nicht sehe. Ich nehme an,

es ist so ähnlich wie damals mit Henry. Doch es fällt mir schwerer,

es bei Jeff zu sehen, weil ich im Moment so verwirrt bin. Ich

kann nicht über das Geschehen hinaussehen.“

„Das ist in Ordnung“, versicherte ich ihr. „Du musst es nicht

unbedingt herausfinden. Es reicht, wenn du bereit bist zuzugestehen,

dass da noch etwas anderes stattfindet. Das ist schon ein

großer Schritt. Die Bereitschaft, die Situation aus einer anderen

Perspektive zu sehen, ist der Schlüssel zu deiner Heilung. Neunzig

Prozent der Heilung geschehen in dem Moment, da du bereit

bist, den Gedanken zuzulassen, dass deine Seele diese Situation

in liebender Absicht für dich erzeugt hat. Durch diese Bereitschaft

gibst du die Kontrolle ab an Gott. Er übernimmt die restlichen

zehn Prozent. Wenn du auf einer tiefen Ebene die Einsicht,

dass Gott dies für dich übernimmt, wirklich zulässt, dann

brauchst du überhaupt nichts mehr zu tun. Die Lösung der Situation

und deine Heilung werden sich automatisch ergeben.“

„Du kannst jedoch bereits vor diesem Schritt einen anderen,

völlig rationalen Schritt machen. Er ermöglicht dir, die Dinge

sofort in einem anderen Licht zu betrachten. Dies beinhaltet,

dass du die Tatsachen von der Fantasie unterscheidest. Es beinhaltet

die Erkenntnis, dass deine Überzeugung keinerlei wirkliche,

auf Tatsachen gründende Basis hat. Deine Überzeugung ist

nichts anderes als eine von dir erfundene Fantasie – basierend auf

einigen wenigen Erfahrungen und viel Interpretation.“

„Wir tun dies die ganze Zeit. Wir erleben ein Ereignis und stellen

unsere Interpretationen an. Dann fügen wir beides zusammen

und erfinden eine größtenteils unzutreffende Geschichte

des Geschehens. Die Geschichte wird zum Glaubensmuster, und

Teil I

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wir verteidigen es, als sei es die Wahrheit. Natürlich ist es dies

niemals.“

„In deinem Fall waren die Tatsachen: Dad hat dich nicht umarmt,

nicht mit dir gespielt, dich nicht festgehalten, dich nicht

auf den Schoß genommen. Er ist deinen Bedürfnissen nach Zuneigung

nicht entgegengekommen. Das waren die Fakten. Auf

der Basis dieser Fakten hast du eine wesentliche Schlussfolgerung

getroffen: ‚Dad liebt mich nicht.‘ Stimmt’s?“ Sie nickte.

„Die Tatsache, dass er deine Bedürfnisse nicht erfüllt hat, bedeutet

jedoch nicht, dass er dich nicht geliebt hat. Das ist eine Interpretation,

nicht die Realität. Er war ein sexuell verklemmter

Mann, und Intimität war für ihn etwas Beängstigendes. Wir wissen

das. Vielleicht wusste er nicht, wie er seine Liebe so zeigen

konnte, wie du es gern gehabt hättest. Erinnerst du dich an das

tolle Puppenhaus, das er dir einmal zu Weihnachten gebaut hat?

Ich erinnere mich, wie er unzählige Stunden jeden Abend daran

bastelte, wenn du schon im Bett lagst. Vielleicht war dies die einzige

Möglichkeit für ihn, dir seine Liebe zu zeigen.“

„Ich will nicht etwa sein Verhalten entschuldigen oder das, was

du gesagt und gefühlt hast, verneinen. Ich versuche nur zu verdeutlichen,

dass wir alle einen Fehler machen: wir denken, unsere

Interpretation entspreche der Wahrheit.“

„Deine nächste schwerwiegende Annahme“, fuhr ich fort, „basierte

auf den Fakten und deiner ursprünglichen Interpretation,

dass Dad dich nicht liebte. Sie lautete: ‚Es ist mein eigener Fehler. Es

muss an mir etwas nicht in Ordnung sein.‘ Dies war eine noch größere

Lüge als die ursprüngliche, findest du nicht?“ Sie nickte.

„Ist es nicht erstaunlich, dass du zu dieser Schlussfolgerung

kommst? Kinder denken so. Nach ihrer Wahrnehmung dreht

sich die ganze Welt nur um sie. Wenn irgendetwas nicht in Ordnung

ist, glauben sie immer, es sei ihre Schuld. Wenn ein Kind

Jills Geschichte

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dies zum ersten Mal denkt, ist es sehr schmerzhaft. Um den

Schmerz zu lindern, unterdrückt das Kind ihn, wodurch es jedoch

noch schwieriger wird, diese Überzeugung wieder loszuwerden.

Sogar als Erwachsene glauben wir noch: ‘Es ist meine Schuld,

und irgendetwas ist mit mir nicht in Ordnung.‘“

„Jedesmal, wenn in unserem Leben die Erinnerung an diesen

Schmerz oder den damit verbundenen Gedanken ausgelöst wird,

gehen wir emotional in unsere Kindheit zurück. Wir fühlen und

verhalten uns wie ein kleines Kind, das zum ersten Mal den

Schmerz empfindet. Genau das passierte, als du sahst, wie meine

Lorraine bei unserem Vater das Gefühl von Liebe weckte. Du

warst 27 Jahre alt, aber in diesem Moment wurdest du wieder

zur Zweijährigen, die sich ungeliebt fühlt. In diesem Moment

hast du deine ganze kindliche Bedürftigkeit ausgelebt. Und du

tust es noch immer, aber dieses Mal mit deinem Mann.“

„Die Überzeugung, auf die du all deine Beziehungen gegründet

hast, basiert auf der Interpretation einer Zweijährigen. Sie hat

keinerlei faktische Grundlage“, schloss ich. „Kannst Du das sehen,

Jill?“, fragte ich sie.

„Ja, ich sehe das“, erwiderte sie. „Ich habe anscheinend aufgrund

dieser unbewussten Annahmen einige ziemlich alberne Entscheidungen

getroffen, oder?“

„Ja, das hast du. Aber du hast sie getroffen, als du unter

Schmerzen littest und noch zu jung warst, um es besser zu wissen.

Obwohl du die Schmerzen unterdrückt hast, um sie loszuwerden,

blieb die Überzeugung auf einer unterbewussten Ebene

in deinem Leben aktiv. An diesem Punkt entschloss sich

deine Seele, einige Dramen in dein Leben zu bringen, damit du

dir deine Überzeugung zu Bewusstsein bringen kannst und die

Gelegenheit bekommst, dich einmal mehr für die Heilung zu

entscheiden.“

Teil I

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„Du hast in deinem Leben die Menschen angezogen, die dich

direkt mit deinem eigenen Schmerz konfrontieren und dich die

ursprüngliche Erfahrung erneut erleben lassen“, fuhr ich fort.

„Genau das tut Jeff jetzt. Ich sage natürlich nicht, dass er das

bewusst macht. Das ist nicht der Fall. Er ist wahrscheinlich über

sein eigenes Verhalten ebenso verwundert wie du. Denk’ daran,

es ist eine Interaktion von Seele zu Seele. Seine Seele weiß um

deinen ursprünglichen Schmerz und darum, dass du ihn nicht

heilen wirst, ohne noch einmal durch die Erfahrung zu gehen.“

„Wow!“, sagte Jill und atmete tief durch. Zum ersten Mal, seit

wir über die Situation sprachen, konnte sie ihren Körper entspannen.

„Es ist sicher eine völlig andere Art, die Dinge zu sehen, aber

weißt du was? Ich fühle mich irgendwie erleichtert. Es ist, als sei

ein Gewicht von meinen Schultern genommen – einfach durch

das Gespräch mit dir.“

„Das liegt daran, dass sich deine Energie verschoben hat“, erwiderte

ich. „Stell dir vor, wie viel Lebensenergie du aufbringen

musstest, um die Geschichte von Dad und Lorraine aufrechtzuerhalten.

Außerdem war unendlich viel Energie nötig, um die

Gefühle von Trauer und Ablehnung zu unterdrücken, die sich

um diese Geschichte rankten. Die Tränen, die du gerade vergossen

hast, haben dir ermöglicht, viel davon loszulassen. Du hast

gemerkt, dass es sich ohnehin nur um eine Fantasie, eine Geschichte

handelte. Welche Erleichterung das sein muss! Zusätzlich

hast du noch viel Energie auf Jeff konzentriert – du musstest

ihn anklagen, dich selbst anklagen, Opfer sein und Ähnliches.

Die Bereitschaft, die Situation neu und anders zu sehen, ermöglicht

dir das Loslassen all dieser Energien. Sie durch dich hindurchgehen

zu lassen. Kein Wunder, dass du dich leichter

fühlst!“, lachte ich sie an.

 

 

Jills Geschichte

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„Und wenn ich Jeff einfach verlassen hätte, statt zu verstehen,

was hinter der Situation mit ihm vor sich geht?“ fragte Jill.

„Deine Seele hätte jemand anderes in dein Leben gebracht, der

dir helfen kann, zu heilen“, erwiderte ich sofort. „Doch du hast

ihn nicht verlassen, oder? Du bist stattdessen hierher gekommen.

Du musst verstehen, dass dein Treffen mit mir kein Zufall

ist. In diesem System gibt es keine Zufälle. Du – oder vielmehr

deine Seele hat diese Reise und damit die Gelegenheit, die Dynamik

der Situation mit Jeff zu begreifen, herbeigeführt. Deine

Seele hat dich hierher geführt. Und Johns Seele stiftete zu diesem

Zeitpunkt diese spezielle Reise an, sodass ihr gemeinsam

hierherkamt. “

„Und was ist mit den zwei Lorraines“, fragte sich Jill. „Wie ist das

vor sich gegangen? Das ist doch sicherlich auch kein Zufall.“

„In diesem System gibt es auch keine Zufälle. Stell dir einfach

vor, deine Seele und die Seelen einiger anderer Menschen haben

sich verschworen, um diese Situation zu erzeugen. Nun schau dir

an, wie perfekt es passte, dass an der ursprünglichen Situation

ebenso wie am aktuellen Konflikt jeweils eine Person namens

Lorraine beteiligt war. Einen deutlicheren, vollkommeneren Hinweis

hätte man sich kaum vorstellen können. Es ist nur schwer

vorstellbar, das Ganze sei keine sinnvolle Fügung, findest du

nicht?“

„Und was soll ich jetzt damit anstellen?“, fragte Jill. „Es ist wahr,

ich fühle mich leichter. Doch was soll ich tun, wenn ich wieder

nach Hause komme und Jeff treffe?“

„Es gibt nur sehr wenig, was du tun musst“, antwortete ich. „Von

diesem Punkt an ist es eher eine Frage dessen, wie du dich fühlst.

Spürst du, dass du nun kein Opfer mehr bist? Dass Jeff nicht

mehr dein Peiniger ist? Siehst du, dass du exakt diese Situation

brauchtest und wolltest? Spürst du, wie sehr dich dieser Mann

liebt – auf der seelischen Ebene?“

Teil I

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„Was meinst du damit?“, fragte Jill.

„Er war gewillt, alles zu tun, was nötig war, um dich an diesen

Punkt zu bringen. Dahin, dass du deine Überzeugungen über

dich selbst in Frage stellst und erkennst, dass sie falsch sind. Er

hat viel auf sich genommen, um dir zu helfen. Er ist von Natur

aus kein grausamer Mensch, also muss es sehr hart für ihn gewesen

sein. Nur wenige Männer hätten das für dich getan – auf die

Gefahr hin, dich dabei zu verlieren. Jeff – oder vielmehr Jeffs

Seele – ist ein wahrer Engel für dich. Wenn du das wirklich verstehst,

wirst du ihm sehr dankbar sein. Außerdem wirst du nicht

mehr länger für ihn ausstrahlen, du seiest nicht liebenswert. Du

wirst vielleicht zum ersten Mal in deinem Leben imstande sein,

Liebe zuzulassen. Du wirst Jeff verziehen haben, weil du dir klar

darüber bist, dass nichts falsch gelaufen ist. Es war in jeder Hinsicht

vollkommen.“

„Und ich verspreche dir“, fuhr ich fort, „dass Jeff sich in diesem

Augenblick bereits verändert und sein seltsames Verhalten aufhört.

Seine Seele spürt bereits, dass du ihm vergeben und deine

falsche Wahrnehmung deiner selbst aufgelöst hast. Wenn du

deine Energie änderst, ändert sich auch seine Energie. Ihr seid

energetisch miteinander verbunden. Die physische Entfernung

ist irrelevant.“

.

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Jill – Opferdasein ade! 4

Aus:Colin Tipping: “Ich vergebe – Der radikale Abschied vom Opferdasein“

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„Wie war deine Beziehung zu Henry, deinem ersten Mann?“,

erwiderte ich. Sie war mit Henry, dem Vater ihrer vier Kinder,

15 Jahre lang verheiratet gewesen.

„In vieler Hinsicht nicht schlecht, doch er war so untreu. Er suchte

immer nach Gelegenheiten, mit anderen Frauen Sex zu haben,

und ich fand das furchtbar.“

„Genau. Und du sahst ihn als den Bösen und dich als das Opfer

in der Situation. Die Wahrheit ist jedoch, dass du ihn genau

deshalb in deinem Leben angezogen hast, weil du auf einer bestimmten

Ebene wusstest, dass er deine Überzeugung, nicht gut

genug zu sein, bestätigen würde. Indem er untreu war, bekräftigte

er dich in dieser Selbsteinschätzung.“

„Willst du damit sagen, dass er mir einen Gefallen getan hat? Das

kaufe ich dir so nicht ab!“, sagte sie lachend, aber gleichzeitig mit

einer Spur unübersehbaren Ärgers.

„Zumindest hat er dich in deinem Glauben bestärkt, oder

nicht?“, erwiderte ich. „Du warst so deutlich nicht gut genug, dass

Jills Geschichte

26

er sich immer nach anderen, besseren Frauen umschaute. Wenn er

das Gegenteil getan und dich ständig so behandelt hätte, als

seiest du vollkommen genug, hättest du in deinem Leben ein

anderes Drama erschaffen, um deine Überzeugung zu bekräftigen.

Deine Überzeugungen über dich selbst, selbst wenn sie völlig

unzutreffend waren, machten es dir unmöglich, gut genug zu

sein.“

„Ebenso hätte Henry wahrscheinlich sofort aufgegeben, sich an

deine Freundinnen heran zu machen, wenn du damals deine

Überzeugung geändert hättest, indem du deinen ursprünglichen

Schmerz um deinen Vater geheilt und dein Selbstwertgefühl in

gut genug geändert hättest. Wenn er es nicht aufgegeben hätte,

dann hättest du wahrscheinlich überhaupt kein Problem damit

gehabt, ihn zu verlassen – um jemand anderen zu finden, der

dich so behandelt, als seist du gut genug. Wir erzeugen uns immer

unsere eigene Realität gemäß unseren Überzeugungen.

Wenn du deine Glaubensmuster kennenlernen möchtest, dann

schau dir an, was du in deinem Leben hast. Unser Leben ist immer

ein Spiegelbild unserer Überzeugungen.“

Jill schien ein wenig verwundert, also beschloss ich, einiges noch

etwas genauer zu beschreiben. „Jedes Mal, wenn Henry dich betrog,

gab er dir die Gelegenheit, deinen alten Schmerz zu heilen.

Dein alter Schmerz war der, von deinem Vater nicht geliebt zu

werden. Henry stellte deine Überzeugung, niemals gut genug für

einen Mann zu sein, unter Beweis und agierte sie für dich aus.

Die ersten Male, als dies geschah, warst du wahrscheinlich so

wütend und aufgeregt, dass du leicht mit deinem alten Schmerz

hättest in Kontakt kommen und mit deinen Überzeugungen

über dich selbst vertraut werden können. Als Henry dich die ersten

Male betrog, waren dies die ersten Gelegenheiten, Radikale

Vergebung zu üben und deine alte Verletzung zu heilen. Doch du

hast diese Chancen verpasst. Du beschuldigtest ihn jedes Mal

und schlüpftest in die Opferrolle. So wurde Heilung unmöglich.“

Teil I

27

„Was meinst du mit Vergebung?“, fragte Jill sehr besorgt. „Meinst

du, ich hätte ihm verzeihen sollen, als er meine beste Freundin

und alle möglichen anderen Frauen verführte?“

„Ich meine, er gab dir damals eine Gelegenheit, mit deinem alten

Schmerz in Kontakt zu kommen und zu sehen, dass eine bestimmte

Überzeugung über dich selbst dein Leben beherrscht.

Indem er dies tat, gab er dir die Gelegenheit, deine Überzeugungen

zu verstehen und zu verändern und damit deine ursprüngliche

Verletzung zu heilen. Das meine ich mit Vergebung. Kannst

du erkennen, dass Henry deine Vergebung verdient?“

„Ja, ich glaube, ich kann“, sagte sie. „Er spiegelte jene Überzeugung

wider, in die ich mich geflüchtet hatte, weil ich mich von

Dad ungeliebt fühlte. Er bestätigte mir, dass ich nicht gut genug

war. Ist es das, was du meinst?“

„Ja, und dafür, dass er dir diese Gelegenheit gab, verdient er Anerkennung

– mehr, als dir im Augenblick bewusst ist. Wir wissen

nicht, ob er sein Verhalten geändert hätte, wenn du dein Problem

mit deinem Dad damals hättest auflösen können. Oder ob du

ihn vielleicht verlassen hättest. In jedem Fall wäre er dir eine große

Hilfe gewesen. In diesem Sinn verdient er nicht nur deine

Vergebung, sondern sogar deine Dankbarkeit. Und – weißt du

was? Es war nicht sein Fehler, dass du die wahre Botschaft hinter

seinem Verhalten nicht erkanntest.“

„Es ist sicher nicht leicht für dich, es so zu sehen: dass er versuchte,

dir ein großes Geschenk zu machen. Wir haben nicht gelernt,

es so zu sehen. Wir haben nicht gelernt, auf das Geschehen zu

schauen und zu sagen: ‚Sieh mal an, was ich in meinem Leben erschaffen

habe. Ist das nicht interessant?‘ Stattdessen haben wir gelernt,

zu urteilen, zu beschuldigen und anzuklagen. Wir haben

gelernt, Opfer zu sein und Vergeltung zu suchen. Nicht erworben

haben wir den Glauben daran, dass unser Leben von Kräften

gelenkt wird, die über unser bewusstes Denken hinausgehen.

Jills Geschichte

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Nicht erworben haben wir das Wissen darum, was in Wirklichkeit

der Fall ist.“

„Tatsächlich war es nämlich Henrys Seele, die versucht hat, dich

zu heilen. An der Oberfläche hat Henry nur seine sexuelle Leidenschaft

ausgelebt. Doch seine Seele – die mit deiner Seele zusammenarbeitete

– setzte diese Leidenschaft für dein spirituelles

Wachstum ein. Diese Erkenntnis ist Radikale Vergebung. Der

Sinn der Radikalen Vergebung liegt darin, die Wahrheit unter der

Oberfläche der jeweiligen Lebensumstände zu sehen und jene

Liebe zu erkennen, die dort jederzeit herrscht.“

.

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