Startseite » Beitrag verschlagwortet mit 'Jill'
Schlagwort-Archive: Jill
Jill – Opferdasein ade! 6
Auszug aus Colin Tipping: “Ich vergebe – Der radikale Abschied vom Opferdasein“
Folge 6 und Schluss.
Ich kam dann auf ihre Frage zurück: „Du brauchst nichts Besonderes
zu tun, wenn du nach Hause kommst. Ich möchte sogar,
dass du mir versprichst, erst einmal überhaupt nichts zu tun. Auf
keinen Fall solltest du Jeff von deiner neuen Sicht der Dinge berichten.
Ich möchte, dass du siehst, wie sich alles allein schon
durch deine Wahrnehmung eurer Situation ändert.“
„Du wirst außerdem das Gefühl haben, dass du dich selbst geändert
hast“, fügte ich hinzu. „Du wirst dich innerlich ruhiger,
mehr in dir selbst und entspannter fühlen. Du wirst eine innere
Gewissheit ausstrahlen, die Jeff eine Zeit lang möglicherweise
Jills Geschichte
36
etwas seltsam vorkommt. Es wird eine Zeit brauchen, bis sich
deine Beziehung zu ihm einrenkt. Möglicherweise ist es am Anfang
noch etwas schwierig, doch das Problem wird sich nun lösen“,
schloss ich voll Überzeugung.
Jill und ich sprachen noch häufig über die Einzelheiten ihrer Situation,
bevor sie wieder nach England zurückkehrte. Es ist immer
schwierig für jemanden, die Perspektive der Radikalen Vergebung
anzunehmen, wenn er emotional stark belastet ist. Um
so weit zu kommen, dass Radikale Vergebung wirklich stattfinden
kann, muss man sich damit häufig erst einmal gründlich
befassen und sich diese neue Perspektive immer wieder vor Augen
führen. Zur Unterstützung zeigte ich meiner Schwester einige
Atemtechniken, die ihr dabei helfen würden, Gefühle freizusetzen
und neue Lebensmöglichkeiten zu integrieren. Außerdem
bat ich sie, ein Arbeitsblatt zur Radikalen Vergebung auszufüllen
(siehe Teil IV: Werkzeuge zur Radikalen Vergebung).
An dem Tag, als Jill abreiste, war sie offensichtlich etwas unsicher
bei der Aussicht, in ihre alte Lebenssituation zurückzukehren.
Nachdem sie sich am Flugsteig verabschiedet hatte, schaute sie
noch einmal zurück und versuchte, so zuversichtlich wie möglich
zu winken. Doch ich wusste, sie hatte große Angst, ihr neu gefundenes
Verständnis wieder zu verlieren und erneut in die Dramatik
der Situation verwickelt zu werden.
Offensichtlich verlief das Wiedersehen mit Jeff dann zufriedenstellend.
Jill bat ihn, sie nicht sofort darüber zu befragen, was mit
ihr während ihrer Reise geschehen sei. Außerdem erbat sie sich
während der nächsten Tage etwas Distanz, um sich einzufinden.
Sie stellte jedoch sofort einen Unterschied bei Jeff fest. Er war
aufmerksam, freundlich und einfühlsam – eher wie der Jeff, den
sie aus der Zeit vor der traurigen Episode kannte.
Während der nächsten Tage sagte Jill Jeff, sie mache ihn nicht
mehr länger für irgendetwas verantwortlich. Ebenso wenig wolle
Teil I
37
sie, dass er sich in irgendeiner Weise ändere. Sie habe herausgefunden,
dass sie selbst für ihre Gefühle verantwortlich sei. Sie werde
mit allem, was geschehe, auf ihre eigene Weise fertig werden, ohne
ihm Vorwürfe zu machen. Sie ging nicht näher ins Detail und versuchte
auch nicht, sich für irgendetwas zu rechtfertigen.
Die Dinge liefen für einige Tage gut, und Jeffs Verhalten gegenüber
seiner Tochter Lorraine änderte sich dramatisch. Tatsächlich
schien in Hinblick auf ihre Beziehung alles wieder so zu werden
wie früher. Doch die Atmosphäre zwischen Jeff und Jill war nach
wie vor gespannt, und ihre Kommunikation blieb sehr eingeschränkt.
Etwa zwei Wochen später spitzte sich die Situation zu. Jill schaute
Jeff an und sagte leise: „Ich habe das Gefühl, ich habe meinen
besten Freund verloren.“
„Ich auch“, erwiderte er.
Zum ersten Mal seit Monaten verstanden sich die beiden. Sie
umarmten einander und weinten. „Lass uns reden“, sagte Jill.
„Ich muss dir sagen, was ich mit Colin in Amerika gelernt habe.
Es mag sich für dich vielleicht zuerst etwas seltsam anhören, aber
ich möchte es dir erzählen. Du musst es mir nicht glauben. Willst
du es hören?“
„Auf jeden Fall“, erwiderte Jeff. „Ich weiß, dass da etwas Wichtiges
mit dir passiert ist. Ich möchte wissen, was! Du hast dich
sehr zu deinem Vorteil verändert. Du bist nicht mehr derselbe
Mensch, der damals mit John ins Flugzeug stieg. Erzähle mir, was
geschehen ist.“
Jill redete und redete. Sie erklärte die Dynamik der Radikalen
Vergebung, so gut sie konnte – und so, dass Jeff sie verstand. Sie
fühlte sich stark und aktiv. Sie war ihrer selbst sicher und zuversichtlich,
dass sie alles richtig begriffen hatte. Sie war klar in dem,
was sie darüber dachte.
Jills Geschichte
38
Jeff, ein Praktiker, der allem, was nicht rational erklärbar ist,
skeptisch begegnet, sträubte sich dieses Mal nicht. Im Gegenteil,
er war sehr zugänglich. Er zeigte sich sehr offen für die Vorstellung,
dass sich hinter der alltäglichen Realität noch eine spirituelle
Welt befindet. Auf dieser Basis erschien ihm das Konzept der
Radikalen Vergebung einleuchtend. Er akzeptierte es zwar nicht
vollständig, war aber bereit zuzuhören und es zu überdenken.
Und zu sehen, wie dieses Konzept Jill verändert hatte.
Nach ihrem Gespräch spürten beide, wie ihre Liebe wieder erwachte.
Sie hatten das Gefühl, ihre Beziehung habe eine neue
Chance. Sie machten einander jedoch keine Versprechungen und
kamen überein, miteinander zu reden und zu sehen, wie ihre
Beziehung sich entwickeln werde.
Tatsächlich entwickelte sich ihre Beziehung sehr gut. Jeff behandelte
seine Tochter Lorraine noch immer sehr fürsorglich, aber
nicht so sehr wie vorher. Jill merkte, dass sie sich kaum noch etwas
daraus machte, – selbst wenn Jeff sich so benahm wie früher.
Sie fühlte sich nicht mehr wie ein Kind, und sie ließ sich nicht
mehr von ihrem alten Glauben über sich selbst leiten.
Innerhalb eines Monates nach ihrem Gespräch über Radikale
Vergebung endeten Jeffs alte Verhaltensmuster Lorraine gegenüber.
Lorraine wiederum rief nicht mehr so häufig an und kam
nicht mehr so oft zu Besuch. Sie führte wieder ihr eigenes Leben.
Alles renkte sich allmählich wieder ein, und ihre Beziehung wurde
sicherer und liebevoller als je zuvor. Jeff war der zuvorkommende
und einfühlsame Mann, der er von Natur aus ist. Jill war
weniger bedürftig, und Lorraine war viel glücklicher.
Im nachhinein bin ich sicher: Jill und Jeff hätten sich scheiden
lassen, wenn Jills Seele sie nicht nach Atlanta geführt hätte, um
unser Gespräch zu ermöglichen. In einem großen Zusammenhang
wäre dies sicherlich auch in Ordnung gewesen. Jill wäre jemand
anderem begegnet, mit dem sie das Drama ihres Lebens
Teil I
39
inszeniert und eine weitere Gelegenheit zur Heilung gefunden
hätte. So hat sie die Chance zu heilen wahrgenommen und ist in
ihrer Beziehung geblieben.
Heute, viele Jahre nach dieser Krise, sind die beiden noch immer
zusammen und führen eine glückliche Ehe. Wie wir alle inszenieren
auch die beiden weiterhin dramatische Situationen. Doch sie
wissen, wie sie diese als Gelegenheit zur Gesundung nutzen und
so schnell und leicht wie möglich auflösen können.
P. S.: Das Diagramm auf der folgenden Seite zeigt Jills Geschichte in
grafischer Form. Sie fand diese Sichtweise sehr hilfreich. Das Diagramm
zeigt die Entwicklung des ursprünglichen Schmerzes, sich vom Vater nicht
geliebt zu fühlen, zur Überzeugung, nicht gut genug zu sein. Und zeigt
weiterhin, wie diese Wahrnehmung sich in ihrem Leben niederschlug. Sie
können diese Darstellungstechnik auf ihren eigenen Lebensweg anwenden,
falls Sie Parallelen oder Ähnlichkeiten erkennen.
.
.
Jill – Opferdasein ade! 4
Aus:Colin Tipping: “Ich vergebe – Der radikale Abschied vom Opferdasein“
.
„Wie war deine Beziehung zu Henry, deinem ersten Mann?“,
erwiderte ich. Sie war mit Henry, dem Vater ihrer vier Kinder,
15 Jahre lang verheiratet gewesen.
„In vieler Hinsicht nicht schlecht, doch er war so untreu. Er suchte
immer nach Gelegenheiten, mit anderen Frauen Sex zu haben,
und ich fand das furchtbar.“
„Genau. Und du sahst ihn als den Bösen und dich als das Opfer
in der Situation. Die Wahrheit ist jedoch, dass du ihn genau
deshalb in deinem Leben angezogen hast, weil du auf einer bestimmten
Ebene wusstest, dass er deine Überzeugung, nicht gut
genug zu sein, bestätigen würde. Indem er untreu war, bekräftigte
er dich in dieser Selbsteinschätzung.“
„Willst du damit sagen, dass er mir einen Gefallen getan hat? Das
kaufe ich dir so nicht ab!“, sagte sie lachend, aber gleichzeitig mit
einer Spur unübersehbaren Ärgers.
„Zumindest hat er dich in deinem Glauben bestärkt, oder
nicht?“, erwiderte ich. „Du warst so deutlich nicht gut genug, dass
Jills Geschichte
26
er sich immer nach anderen, besseren Frauen umschaute. Wenn er
das Gegenteil getan und dich ständig so behandelt hätte, als
seiest du vollkommen genug, hättest du in deinem Leben ein
anderes Drama erschaffen, um deine Überzeugung zu bekräftigen.
Deine Überzeugungen über dich selbst, selbst wenn sie völlig
unzutreffend waren, machten es dir unmöglich, gut genug zu
sein.“
„Ebenso hätte Henry wahrscheinlich sofort aufgegeben, sich an
deine Freundinnen heran zu machen, wenn du damals deine
Überzeugung geändert hättest, indem du deinen ursprünglichen
Schmerz um deinen Vater geheilt und dein Selbstwertgefühl in
gut genug geändert hättest. Wenn er es nicht aufgegeben hätte,
dann hättest du wahrscheinlich überhaupt kein Problem damit
gehabt, ihn zu verlassen – um jemand anderen zu finden, der
dich so behandelt, als seist du gut genug. Wir erzeugen uns immer
unsere eigene Realität gemäß unseren Überzeugungen.
Wenn du deine Glaubensmuster kennenlernen möchtest, dann
schau dir an, was du in deinem Leben hast. Unser Leben ist immer
ein Spiegelbild unserer Überzeugungen.“
Jill schien ein wenig verwundert, also beschloss ich, einiges noch
etwas genauer zu beschreiben. „Jedes Mal, wenn Henry dich betrog,
gab er dir die Gelegenheit, deinen alten Schmerz zu heilen.
Dein alter Schmerz war der, von deinem Vater nicht geliebt zu
werden. Henry stellte deine Überzeugung, niemals gut genug für
einen Mann zu sein, unter Beweis und agierte sie für dich aus.
Die ersten Male, als dies geschah, warst du wahrscheinlich so
wütend und aufgeregt, dass du leicht mit deinem alten Schmerz
hättest in Kontakt kommen und mit deinen Überzeugungen
über dich selbst vertraut werden können. Als Henry dich die ersten
Male betrog, waren dies die ersten Gelegenheiten, Radikale
Vergebung zu üben und deine alte Verletzung zu heilen. Doch du
hast diese Chancen verpasst. Du beschuldigtest ihn jedes Mal
und schlüpftest in die Opferrolle. So wurde Heilung unmöglich.“
Teil I
27
„Was meinst du mit Vergebung?“, fragte Jill sehr besorgt. „Meinst
du, ich hätte ihm verzeihen sollen, als er meine beste Freundin
und alle möglichen anderen Frauen verführte?“
„Ich meine, er gab dir damals eine Gelegenheit, mit deinem alten
Schmerz in Kontakt zu kommen und zu sehen, dass eine bestimmte
Überzeugung über dich selbst dein Leben beherrscht.
Indem er dies tat, gab er dir die Gelegenheit, deine Überzeugungen
zu verstehen und zu verändern und damit deine ursprüngliche
Verletzung zu heilen. Das meine ich mit Vergebung. Kannst
du erkennen, dass Henry deine Vergebung verdient?“
„Ja, ich glaube, ich kann“, sagte sie. „Er spiegelte jene Überzeugung
wider, in die ich mich geflüchtet hatte, weil ich mich von
Dad ungeliebt fühlte. Er bestätigte mir, dass ich nicht gut genug
war. Ist es das, was du meinst?“
„Ja, und dafür, dass er dir diese Gelegenheit gab, verdient er Anerkennung
– mehr, als dir im Augenblick bewusst ist. Wir wissen
nicht, ob er sein Verhalten geändert hätte, wenn du dein Problem
mit deinem Dad damals hättest auflösen können. Oder ob du
ihn vielleicht verlassen hättest. In jedem Fall wäre er dir eine große
Hilfe gewesen. In diesem Sinn verdient er nicht nur deine
Vergebung, sondern sogar deine Dankbarkeit. Und – weißt du
was? Es war nicht sein Fehler, dass du die wahre Botschaft hinter
seinem Verhalten nicht erkanntest.“
„Es ist sicher nicht leicht für dich, es so zu sehen: dass er versuchte,
dir ein großes Geschenk zu machen. Wir haben nicht gelernt,
es so zu sehen. Wir haben nicht gelernt, auf das Geschehen zu
schauen und zu sagen: ‚Sieh mal an, was ich in meinem Leben erschaffen
habe. Ist das nicht interessant?‘ Stattdessen haben wir gelernt,
zu urteilen, zu beschuldigen und anzuklagen. Wir haben
gelernt, Opfer zu sein und Vergeltung zu suchen. Nicht erworben
haben wir den Glauben daran, dass unser Leben von Kräften
gelenkt wird, die über unser bewusstes Denken hinausgehen.
Jills Geschichte
28
Nicht erworben haben wir das Wissen darum, was in Wirklichkeit
der Fall ist.“
„Tatsächlich war es nämlich Henrys Seele, die versucht hat, dich
zu heilen. An der Oberfläche hat Henry nur seine sexuelle Leidenschaft
ausgelebt. Doch seine Seele – die mit deiner Seele zusammenarbeitete
– setzte diese Leidenschaft für dein spirituelles
Wachstum ein. Diese Erkenntnis ist Radikale Vergebung. Der
Sinn der Radikalen Vergebung liegt darin, die Wahrheit unter der
Oberfläche der jeweiligen Lebensumstände zu sehen und jene
Liebe zu erkennen, die dort jederzeit herrscht.“
.
.
Jill – Opferdasein ade! 3
Auszug aus Colin Tipping: “Ich vergebe – Der radikale Abschied vom Opferdasein“
3. Folge
Vom Standpunkt der Radikalen Vergebung aus betrachtet war
Jeffs seltsames Verhalten unbewusst darauf ausgerichtet, Jill zu
helfen, die unverarbeitete Beziehung mit ihrem Vater zu heilen.
Wenn sie dies sehen und die Vollkommenheit von Jeffs Verhalten
erkennen könnte, würde ihre Verletzung heilen – und Jeffs Verhalten
sich höchstwahrscheinlich ändern. Ich war mir jedoch
nicht sicher, wie ich dies Jill auf eine ihr momentan einleuchtende
Weise erklären konnte. Glücklicherweise brauchte ich es gar
nicht erst zu versuchen. Sie kam ganz von selbst auf diesen offensichtlichen
Zusammenhang.
Später an diesem Tag fragte sie mich: „Colin, findest du es nicht
auch seltsam, dass Jeffs und deine Tochter denselben Namen
haben? Und mehr noch: Beide sind blond und sind die ältesten
Kinder. Ist das nicht ein seltsamer Zufall! Glaubst du, dass es da
einen Zusammenhang gibt?“
Ich lachte und erwiderte: „Mit Sicherheit. Dies ist der Schlüssel
zum Verständnis der gesamten Situation.“
Sie sah mir lange tief in die Augen. „Was meinst du damit?“
Jills Geschichte
22
„Das musst du schon selbst herausfinden“, erwiderte ich. „Siehst
du noch mehr Ähnlichkeiten zwischen dieser Situation mit Dad
und meiner Lorraine und deiner gegenwärtigen Situation?“
„Mal sehen …“, sagte Jill. „Beide Mädchen haben denselben
Namen. Beide scheinen in ihrem Leben das zu bekommen, was
ich von den Männern in meinem Leben niemals bekam.“
„Was ist das?“, fragte ich nach.
„Liebe“, flüsterte sie.
„Sprich weiter“, forderte ich sie vorsichtig auf.
„Es scheint, dass deine Lorraine von Dad die Liebe bekommt, die
ich nicht bekam. Und Jeffs Tochter Lorraine bekommt von ihrem
Dad auch alle Liebe, die sie will – aber auf meine Kosten. O
Gott!“, rief sie aus. Anscheinend begann sie zu verstehen.
„Aber warum? Ich sehe die Ursache nicht. Es ist etwas beängstigend.
Was geht da vor?“ fragte sie in Panik.
Es war Zeit, das Puzzle für sie zusammenzusetzen. „Lass mich
erklären, wie es funktioniert“, sagte ich. „Dies ist ein perfektes
Beispiel dafür, dass – wie ich vorhin sagte – eine völlig andere
Realität hinter dem Drama, das wir ‚Leben‘ nennen, steht.
Glaub’ mir, es gibt nichts, wovor du Angst haben müsstest.
Wenn du siehst, wie es funktioniert, wirst du mehr Vertrauen,
mehr Sicherheit und mehr inneren Frieden spüren, als du es jemals
für möglich gehalten hättest. Du wirst erkennen, wie wir
durch das Universum oder Gott, wie auch immer du es nennen
willst, getragen werden, in jedem Moment jeden Tages, ganz
gleich, wie schlimm uns die Lage erscheinen mag“, sagte ich so
zuversichtlich, wie ich konnte.
„Aus spiritueller Perspektive betrachtet, ist unsere Unzufriedenheit
mit einer gegebenen Situation ein Zeichen dafür, dass wir
spirituell aus dem Gleichgewicht geraten sind und sich uns eine
Teil I
23
Gelegenheit bietet, etwas zu heilen. Es kann ein echter Schmerz
sein oder auch ein vergifteter Gedanke, der uns davon abhält,
unser wahres Selbst zu sein. Wir sehen es jedoch häufig nicht
aus dieser Perspektive. Stattdessen beurteilen wir die Situation
und machen andere dafür verantwortlich, was geschieht. Dies
hält uns davon ab, die Botschaft zu verstehen und unsere Lektion
zu lernen. Es verhindert unsere Heilung. Wenn wir nicht
heilen, was geheilt werden muss, bleibt uns nichts anderes übrig,
als weitere Unzufriedenheit zu erzeugen, bis wir buchstäblich
gezwungen sind, uns zu fragen: ‚Was geht hier eigentlich vor?‘
Manchmal muss die Botschaft sehr laut sein oder der Schmerz
unerträglich, bevor wir anfangen, hinzuschauen. Eine lebensbedrohliche
Krankheit etwa ist eine deutliche Botschaft. Doch
manche Menschen sehen den Zusammenhang zwischen dem
aktuell Geschehenden und der Chance zur Heilung selbst im
Angesicht des Todes nicht.“
„In deinem Fall ist das zu Heilende dein alter Schmerz hinsichtlich
deines Vaters und der Tatsache, dass er dir niemals Liebe
zeigte. Darum geht es bei deinem aktuellen Schmerz und deiner
Unzufriedenheit. Dieser Schmerz entstand immer wieder, in den
verschiedensten Situationen. Aber da du die Gelegenheit nicht
erkanntest, konnte die Verletzung nicht heilen. Daher ist es ein
Geschenk, wenn der Schmerz nun wiederkommt und dir Gelegenheit
gibt, hinzusehen und Gesundung zu ermöglichen.“
„Ein Geschenk?“, fragte Jill. „Du meinst, es ist ein Geschenk, weil
darin eine Botschaft für mich enthalten ist? Eine Botschaft, die
ich schon vor langer Zeit hätte erhalten sollen, wenn ich sie nur
verstanden hätte?“
„Genau“, sagte ich. „Hättest du es damals verstanden, wäre deine
Unzufriedenheit geringer gewesen, und du müsstest nicht
durch das gegenwärtige Leiden gehen. Doch es spielt keine Rolle.
Jetzt ist es auch gut. Es ist perfekt. Du brauchst keine lebens-
Jills Geschichte
24
bedrohliche Krankheit, um zu begreifen, wie es so viele Menschen
tun. Du beginnst, es zu verstehen – und zu heilen.“
„Lass mich dir einmal genau erklären, was geschehen ist und wie
es dein Leben bis heute beeinflusst hat“, sagte ich. Ich wollte,
dass sie die Dynamik ihrer gegenwärtigen Situation klar vor
Augen hatte.
„Als kleines Mädchen fühltest du dich verlassen und ungeliebt
von deinem Dad. Dies ist eine niederschmetternde Erfahrung. Aus
entwicklungspsychologischer Sicht ist es notwendig für ein junges
Mädchen, sich vom Vater geliebt zu fühlen. Da du diese Liebe
nicht gefühlt hast, hast du daraus geschlossen, dass etwas mit dir
nicht stimmt. Du begannst, wirklich daran zu glauben, dass du
nicht liebenswert und nicht gut genug bist. Dieser Glaube verankerte
sich tief in deinem Unterbewusstsein und begann später – als es
zu Beziehungen kam – dein Leben zu ruinieren. In gewisser Weise
kam es immer wieder zur Bestätigung dieser unbewussten Überzeugung:
Es gab in deinem Leben genügend Situationen, die dir
vorspiegelten, du seist in der Tat nicht gut genug. Unser Leben wird
immer unsere Überzeugungen bestätigen.“
„Für dich als Kind war der Schmerz, die Liebe deines Vaters nicht
zu bekommen, mehr, als ein Kind ertragen konnte. Also hast du
einen Teil des Schmerzes – und damit noch viel mehr – unterdrückt.
Wenn man ein Gefühl unterdrückt, weiß man, dass es da
ist, aber man frisst es in sich hinein. Unterdrückte Gefühle werden
so tief im Unterbewusstsein vergraben, dass man sich ihrer
nicht mehr bewusst ist.“
„Später, als du merktest, dass dein Vater von Natur aus kein liebevoller
Mensch ist und wahrscheinlich niemanden lieben konnte,
begannst du dich etwas davon zu erholen, nicht von ihm geliebt
zu werden. Du begannst zu heilen. Wahrscheinlich hast du
begonnen, einen Teil des unterdrückten Schmerzes loszulassen
und einen Teil deiner Überzeugungen aufzugeben, dass du nicht
Teil I
25
liebenswert bist. Wenn er wirklich niemanden lieben konnte, war
es vielleicht doch nicht dein Fehler, dass er dich nicht liebte.“
„Doch in diesem Moment platzte die Bombe, die dich wieder
ganz zum Anfang zurückwarf. Als du beobachtetest, wie er meine
Lorraine liebte, löste dies in dir deine ursprüngliche Überzeugung
wieder aus. Du sagtest dir, ‚mein Vater kann doch lieben, aber
er liebt nicht mich. Es ist offensichtlich doch mein Fehler. Ich bin meinem
Vater nicht gut genug, und ich werde niemals für einen Mann gut genug
sein.‘ Von diesem Zeitpunkt an führtest du immer wieder Situationen
herbei, die dich in der Überzeugung bekräftigten, nicht gut
genug zu sein.“
„Wie habe ich das gemacht?“, unterbrach mich Jill. „Ich kann
nicht erkennen, wie ich es geschafft habe, in meinem Leben nicht
gut genug zu sein.“
.
.
Jill – Opferdasein ade! 1
Auszug aus Colin Tipping: “Ich vergebe – Der radikale Abschied vom Opferdasein“ ISBN 978-3933496805 © J.Kamphausen Verlag
1: Jills Geschichte
Als meine Schwester in der Ankunftshalle des Atlanta
Hartsfield International Airport auf mich zukam,
wusste ich sofort, dass etwas nicht stimmte. Sie konnte
ihre Gefühle noch nie gut verbergen, und ich sah deutlich, wie
sehr sie emotional litt.
Jill war mit meinem Bruder John, den ich seit sechzehn Jahren
nicht mehr gesehen hatte, aus England in die USA geflogen.
John war 1972 aus England nach Australien ausgewandert, ich
ging 1984 in die USA. Jill war daher – und ist es noch heute –
die einzige von uns drei Geschwistern, die noch in England lebt.
John war nach Hause gereist, und sein Trip nach Atlanta war
die letzte Etappe seiner Rückreise. Jill begleitete ihn nach
Atlanta, so dass sie mich und meine Frau JoAnna für ein paar
Wochen besuchen und John von dort nach Australien verabschieden
konnte.
Wir umarmten uns zur Begrü.ung, und nach einem Moment
der Verlegenheit machten wir uns auf den Weg zum Hotel. Ich
hatte für die Nacht Zimmer reserviert, sodass JoAnna und ich
den beiden am nächsten Tag Atlanta zeigen konnten, bevor wir
in unser Haus fahren würden.
Sobald sich eine Gelegenheit zu einem ernsten Gespräch ergab,
sagte Jill: „Colin, es sieht nicht gut bei mir zu Hause aus. Jeff und
ich werden uns wahrscheinlich trennen.“
Obwohl ich gemerkt hatte, dass mit meiner Schwester etwas
nicht stimmte, war ich überrascht. Ich war immer sicher gewesen,
sie führe mit ihrem Mann Jeff eine glückliche Ehe. Beide waren
A
Teil I
15
zuvor verheiratet gewesen, doch diese Beziehung schien von
Dauer zu sein. Jeff hatte aus vergangener Ehe drei Kinder, Jill
hatte vier. Ihr jüngster Sohn Paul war der einzige, der noch zu
Hause wohnte.
„Was ist los?“, fragte ich.
„Es ist seltsam, und ich weiß auch gar nicht, wo ich anfangen
soll“, erwiderte sie. „Jeff verhält sich sehr merkwürdig, und ich
halte es nicht mehr viel länger aus. Wir sind an einem Punkt, an
dem wir nicht mehr miteinander reden können. Es bringt mich
um. Er hat sich vollkommen von mir abgewandt und sagt, alles
sei meine Schuld.“
„Sprich Dich aus“, sagte ich und sah zu John, der die Augen verdrehte.
Er hatte die beiden vor seinem Flug nach Atlanta eine
Woche lang besucht, und ich schloss aus seiner Miene, dass er
von dem Thema vorerst genug hatte.
„Erinnerst Du Dich an Jeffs älteste Tochter Lorraine?“, fragte Jill.
Ich nickte. „Ihr Mann starb vor etwa einem Jahr bei einem Autounfall.
Seitdem hat sich zwischen ihr und Jeff diese äußerst
seltsame Beziehung entwickelt. Jedes Mal, wenn sie anruft, überschl.gt
er sich fast und umschmeichelt sie, nennt sie ,Liebes‘ und
tuschelt stundenlang mit ihr. Man könnte denken, sie seien verliebt
– und nicht Vater und Tochter. Wenn er bei ihrem Anruf
gerade beschäftigt ist, lässt er alles stehen und liegen, um mit ihr
zu reden. Wenn sie zu uns nach Hause kommt, verhält er sich
genauso – wenn nicht schlimmer. Sie hocken zusammen, flüstern
nur miteinander und schließen alle anderen aus – besonders
mich. Ich kann es kaum ertragen. Ich habe das Gefühl, sie ist das
Wichtigste in seinem Leben geworden, und ich spiele so gut wie
keine Rolle mehr. Ich fühle mich total ausgeschlossen und missachtet.“
Sie erzählte weiter und schilderte mehr Details der seltsamen
Familiendynamik, die sich da entwickelt hatte. JoAnna und ich
Jills Geschichte
16
hörten aufmerksam zu. Wir waren verständnisvoll und mitfühlend;
wir erörterten mögliche Ursachen für Jeffs Verhalten und
machten Jill Vorschläge, wie sie mit ihm darüber sprechen könnte.
Kurz: wir versuchten, Lösungsmöglichkeiten zu finden, wie
dies ein besorgter Bruder und eine Schwägerin so tun. John half
mit und bot ebenfalls seine Sicht der Situation dar.
Was mir seltsam und verdächtig vorkam, war das untypische
Verhalten von Jeff. Der Jeff, den ich kannte, war liebevoll zu seinen
Töchtern und sicherlich abhängig genug, um ihre Bestätigung
und Liebe sehr zu brauchen. Doch ich hatte sein Verhalten
niemals so gesehen, wie Jill es beschrieb. Ich kannte ihn als fürsorglich
und liebevoll gegenüber Jill. Ich konnte kaum glauben,
dass er sie nun so grausam behandelte. Es war für mich klar, dass
diese Situation Jill unglücklich machte und Jeffs Beharren darauf,
sie bilde sich alles nur ein, für sie alles noch verschlimmerte.
Die Unterhaltung setzte sich den ganzen nächsten Tag fort. Ich
begann eine Vorstellung davon zu bekommen, was sich aus der
Perspektive der Radikalen Vergebung zwischen Jill und Jeff abspielte.
Doch ich beschloss, dies nicht zu erwähnen – jedenfalls
nicht sofort. Sie war zu befangen in dem Drama der Situation
und wäre so nicht in der Lage gewesen, zu hören und zu verstehen.
Radikale Vergebung basiert auf einer umfassenden spirituellen
Perspektive, die damals, als wir noch zusammen in England
lebten, ganz und gar nicht zu unserer gemeinsamen Lebenswirklichkeit
gehörte. Ich war mir sicher, dass sie und John so gut
wie nichts über meine Ideen und Vorstellungen bezüglich Radikaler
Vergebung wussten. Ich hatte das bestimmte Gefühl, es sei
noch nicht an der Zeit, einen so schwierigen Gedanken zu äußern
wie: dass alles so, wie es ist, vollkommen ist – und eine Gelegenheit
zu heilen.
Nachdem wir zwei Tage das Problem immer wieder gewälzt hatten,
entschied ich, dass die Zeit reif sei, Radikale Vergebung anzusprechen.
Dazu musste sich allerdings meine Schwester der
Teil I
17
Möglichkeit öffnen, dass etwas in ihrem Leben geschah, das über
das Offensichtliche hinausging – etwas Sinnvolles, von göttlicher
Instanz geleitet und ihrem höheren Wesen dienend. Doch noch
war sie überzeugt, das Opfer der Situation zu sein. So war fraglich,
ob sie bereit war, eine Version von Jeffs Verhalten zu hören,
die sie aus dieser Rolle befreien konnte.
Als meine Schwester jedoch begann, die Version vom Vortag zu
wiederholen, entschloss ich mich, einzuschreiten. Vorsichtig sagte
ich: „Jill, wärst du gewillt, die Situation aus einer neuen Perspektive
zu betrachten? Könntest du mir zuhören, wenn ich dir
eine völlig andere Deutung der Ereignisse vorstelle?“
Sie schaute mich an, als wollte sie sagen: ‚Wie soll es möglich sein,
dass man die Dinge anders interpretieren kann. Es ist so, wie es ist.‘ Jill
und ich haben jedoch eine gemeinsame Geschichte; in der Vergangenheit
hatte ich ihr bei der Lösung eines Beziehungsproblems
geholfen. Also vertraute sie mir genügend, um zu erwidern:
„Meinetwegen. Was schwebt dir vor?“
.
